Katastrophale Zustände in Calais Die Franzosen verlieren allmählich die Geduld

Empörte Anwohner fordern eine Schließung des ausufernden Flüchtlingslagers in Calais. Die französische Regierung gerät sieben Monate vor der Präsidentschaftswahl gewaltig unter Druck.

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6900 Flüchtlinge leben nach offiziellen Angaben in einem riesigen Zeltlager in Calais. Laut Schätzungen sind es sogar 9000. Quelle: AFP

Paris Streiks, Demonstrationen und Blockaden sind eine Spezialität Frankreichs. Sie gehören zur Kultur wie Käse und Wein. Und so verwundert es nicht, dass Proteste auch die Antwort auf die Flüchtlingskrise sind. Lastwagenfahrer und Bauern mit Traktoren blockierten am Montag in der Region um Calais Autobahn und Zufahrtsstraßen. Sie fuhren auch zum Hafen und sorgten für kilometerlange Staus – und damit auch für viel Aufsehen. Auf ihren Spruchbändern standen Slogans wie: „Die Bürger von Calais sind eingesperrt, die Flüchtlinge sind frei“.

Ihr Protest richtete sich gegen den „Dschungel“, das Flüchtlingslager von Calais, aber auch gegen die Tatenlosigkeit der Regierung. Die Anwohner haben genug vom Lager. Das Camp auf einer ehemaligen Mülldeponie hat die Stadt grundlegend verändert und hält Touristen fern.

Die französische Regierung gerät sieben Monate vor der Präsidentschaftswahl am 23. April 2017 stärker unter Druck. Die konservative Opposition, darunter Nicolas Sarkozy, kritisiert die Zustände in Calais und fordert ein „geschlossenes Flüchtlingszentrum“ in Großbritannien. Für Sarkozy ist die Begrenzung der Migration eines der wichtigsten Wahlkampfthemen.

Und auch Marine Le Pen, die Chefin der rechtsextremen Partei Front National, kritisiert immer wieder den Umgang der Regierung mit dem Lager in Calais. Präsident François Hollande steht deshalb unter Zugzwang. Bisher hatte die europäische Flüchtlingskrise Frankreich kaum tangiert; anders als Deutschland zieht das Land nur wenige Flüchtlinge an.

Neue Flüchtlingsunterkünfte sollen nun unter anderem in Paris entstehen. Die Bürgermeisterin Anne Hidalgo kündigte am Dienstag die ersten Aufnahmezentren für Flüchtlinge in der Hauptstadt an – denn auch dort waren in den vergangenen Monaten illegale Matratzen- und Zeltlager entstanden, wo Menschen unter freiem Himmel kampierten. Das erste offizielle Zentrum soll Mitte Oktober im Norden von Paris öffnen, kündigte Hidalgo an. Paris will damit verhindern, dass weitere wilde Camps wie in Calais entstehen.

Im „Dschungel“ hausen laut offiziellen Angaben 6900 Flüchtlinge unter katastrophalen Umständen, Hilfsorganisationen schätzen die Zahl sogar auf 9000. In der Küstenregion leben an anderen Orten weitere Migranten. Immer mehr Flüchtlinge versuchten im letzten Jahr über den Hafen auf Schiffen oder mit Lastwagen nach Großbritannien zu kommen. Lastwagenfahrer wurden angegriffen, die Polizei hatte Probleme, die Situation in den Griff zu bekommen.

„Wir wollen einen festen Termin für die Schließung“, forderten die verärgerten Bürger am Montag. Auch Natacha Bouchard, Bürgermeisterin von Calais, fühlt sich von der Regierung in Paris allein gelassen. Sie war bei den Demonstrationen dabei und verlangte: „Wir wollen, dass die öffentliche Ordnung wieder hergestellt wird.“ Innenminister Bernard Cazeneuve hatte angekündigt, dass das Lager aufgelöst wird, aber kein Datum genannt. Denn zunächst müssen Aufnahmeplätze in Frankreich geschaffen werden.


Neue Hoffnung durch das Brexit-Votum

Das Lager in Calais war jahrelang geduldet worden, generell hielt sich Frankreich bei der Schaffung von Flüchtlingsunterkünften zurück – wohl auch in der Hoffnung, dass die schlechten Lebensbedingungen zusammen mit der hohen Arbeitslosigkeit in Frankreich die Flüchtlinge abschrecken dürften.

Doch mittlerweile ist die Lage in Calais so brisant geworden, dass die Bürger auf die Straße ziehen. Es wird befürchtet, dass die Flüchtlingszahl im „Dschungel“ auf 15.000 steigen könnte. Die Sicherheitsvorkehrungen am Eurotunnel wurden deutlich verschärft. Für die Flüchtlinge wird es immer schwieriger, nach England zu gelangen – und so harren sie in Calais aus.

Die Pariser Bürgermeisterin Hidalgo kündigte zwei Aufnahmelager an: im Norden von Paris in einem früheren Eisenbahndepot und in einem Pariser Vorort. Das eine Zentrum ist für Männer gedacht, das andere für Frauen. Zunächst soll Platz für 400 Männer geschaffen werden, bis Ende des Jahres für 600 Männer. Für die Frauen und Kinder sind im südlichen Pariser Vorort Ivry-sur-Seine 350 Plätze vorgesehen.

In den vergangenen Monaten waren die illegalen Zeltlager in Paris immer wieder geräumt worden und die Flüchtlinge in Unterkünfte in der Region um Paris untergebracht; doch kurze Zeit später waren sie wieder in der Hauptstadt.

Allerdings ist unwahrscheinlich, dass die neuen Aufnahmezentren in Paris die Lage in Calais deutlich entschärfen werden. Denn die Flüchtlinge in Nordfrankreich wollen gar nicht im Land bleiben, sondern nach Großbritannien weiterziehen.

Das Brexit-Votum von Großbritannien könnte allerdings dazu beitragen, die Probleme von Calais zu lösen. Bisher sind die Franzosen an ein französisch-britisches Abkommen gebunden und müssen die Migranten von der Flucht nach Großbritannien abhalten.

Sarkozy verlangt eine Neuverhandlung dieses Abkommens. Denn warum sollte Frankreich in Zukunft weiter die Grenzkontrollen durchführen, wenn Großbritannien die Verträge mit der EU aufkündigt? Schon häufiger wurde deshalb ein Ende der Grenzkontrollen in Frankreichs Medien thematisiert. Das würde dann das Flüchtlingsproblem nach Großbritannien verlagern.

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