Kenia vor der Wahl Nach zehn Jahren immer noch keine Gerechtigkeit

Tausende Menschen starben nach der kenianischen Präsidentschaftswahl 2007. Zehn Jahre später sind die Verbrechen noch immer nicht aufgearbeitet. Bei der bevorstehenden Wahl drohen die alten Wunden erneut aufzubrechen.

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Die Kenianer sind aufgefordert, unter anderem ein neues Parlament und einen neuen Staatschef zu wählen, sowie neue Gouverneure und regionale Parlamente. Quelle: dpa

Nairobi Jane bewahrt den abgetragenen Sarong sorgfältig in ihrer Wohnung in einem Slum von Nairobi auf. Der akkurat gefaltete Wickelrock erinnert sie an den schlimmsten Tag ihres Lebens vor zehn Jahren. Damals wurde die Kenianerin zuerst von zwei Polizisten vergewaltigt. Anschließend überließen sie die junge Frau einer Gruppe von Randalierern, die in die gewaltsamen Unruhen nach der Präsidentschaftswahl 2007 verwickelt waren. „Ich habe das Bewusstsein verloren, nachdem die ersten beiden Zivilisten mich vergewaltigt hatten“, erinnert sich Jane.

„Ich weiß nicht, wie viele Leute das danach noch getan haben“, sagt sie. „Das ist alles geschehen, während sich meine fünfjährige Tochter in einem leeren Wassertank verbarg. Sie hat sich dort versteckt, als die Polizisten anfingen, in Häuser einzubrechen und sie zu plündern.“ Als die heute 38-jährige wieder zu sich kam, waren ihre Hüfte und ein Knie gebrochen. Eine ältere Nachbarin hüllte sie vorsichtig in den Sarong ein.

Die alte Frau selbst sei vor den Augen ihres erwachsenen Sohnes ebenfalls von Polizisten vergewaltigt worden, erzählt Jane. „Ihr Mitgefühl werde ich nie vergessen.“ Im Zuge der hart umkämpften Präsidentschaftswahl am Dienstag droht dem ostafrikanischen Land nun wieder eine Welle der Gewalt. Viele Überlebende der schweren Auseinandersetzungen von 2007 warten bis heute auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die ihnen widerfahrenen Verbrechen.

Die fehlende staatliche Aufarbeitung könnte nach Warnung von Experten dazu führen, dass das Trauma von Generation zu Generation weitergegeben wird und die alten Wunden womöglich wieder aufreißen. Die Gewaltausbrüche nach der Wahl vor zehn Jahren, die nach Angaben von Beobachtern massiv gefälscht war, kostete mehr als 1000 Menschen das Leben. Weitere 600 000 wurden aus ihren Häusern vertrieben. Sowohl Präsident Uhuru Kenyatta als auch sein Stellvertreter William Ruto wurden vor dem Internationalen Strafgerichtshof als mutmaßliche Drahtzieher angeklagt.

Doch das Gericht ließ die Klage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen und begründete dies mit einer beispiellosen Beeinflussung und Bestechung von Zeugen. Eine staatliche Untersuchungskommission kam zu dem Schluss, dass tiefsitzender Hass über bestehende Ungerechtigkeiten und Zweifel an der Unabhängigkeit der Gerichte zu den Gewaltexzessen geführt hatten. Beides kommt bei jeder Wahl erneut hoch. Die Regierung reagierte auf den Bericht, indem sie Reformen des Polizei- und Justizapparats zusagte und die Verfassung änderte, um die Macht des Präsidenten stärker zu begrenzen.

Zudem wurde eine Wahrheits- und Versöhnungskommission eingesetzt, um die Verbrechen ordnungsgemäß zu untersuchen. Doch trotz einiger Veränderungen wurde das Polizeisystem bis heute nicht reformiert, dessen Beamten nachweislich für mehr als 400 Tötungen im Zuge der Unruhen von 2007 verantwortlich waren. In einem Bericht der Wahrheitskommission aus dem Jahr 2013 wurde Kenyatta als mutmaßlicher Hauptverantwortlicher der Gewalt genannt. Der Präsident versprach, Maßnahmen zu ergreifen, sobald der Report dem Parlament übergeben werde. Doch das Thema landete nie auf der Tagesordnung der Abgeordneten.

Falls die Ungerechtigkeiten nicht aufgearbeitet werden, ist es nach Ansicht von Experten nur eine Frage der Zeit, bis die Gewalt wieder hervorbricht. „Solange es keine landesweite Diskussion gibt, werden wir uns bei jeder Wahl wieder auf dünnem Eis bewegen“, sagt Menschenrechtsaktivist Njonjo Mue. Der Bericht der Wahrheitskommission sei im Parlament verstaubt, weil darin die Namen einflussreicher Familien - darunter auch Kenyattas - als Täter genannt worden seien.

Jane hat 2013 zusammen mit sieben weiteren Opfern sexueller Gewalt die Regierung verklagt. Diese habe es versäumt, die Menschen zu schützen, argumentierte sie. Nach dem Überfall sei sie in die Armut gerutscht, da ihr Handwerkszeug gestohlen worden sei, sagt die 38-Jährige. Außerdem habe ihr Mann sie und die beiden gemeinsamen Kinder verlassen und erklärt, er könne nicht mit einer Frau verheiratet sein, „die mit der halben Welt geschlafen hat“.

Laut Mue wurden nur sehr wenige der Straftäter von 2007 zur Verantwortung gezogen. Tina Alai von der Organisation Ärzte für Menschenrechte betont, wie wichtig die Aufarbeitung sei. Eine Wiedergutmachung vergangener Ungerechtigkeiten und eine Beschäftigung mit den Ursachen seien Voraussetzung für den Aufbau einer rechtsstaatlichen Gesellschaft, erklärt die Expertin, die Jane und andere kenianische Gewaltopfer unterstützt.

Schon jetzt gab es erste Fälle von Gewalt im Vorfeld der Wahl. Im sogenannten ostafrikanischen Grabenbruch wurden seit Jahresbeginn mindestens 60 Menschen bei Kämpfen getötet, als Hirtennomaden Farmen angriffen. Sie beanspruchen die Ländereien, die häufig im Besitz europäischer Eigentümer sind, für sich.

Regierungsvertreter warfen Politikern vor, den Streit in der Hoffnung auf Wählerstimmen anzufachen. Der Völkerrechtsexperte Ronald Slye von der Universität von Seattle warnt vor einer Neuauflage der Gewalt. „Auf kurze Sicht ergibt es vielleicht Sinn, solche Spannungen zu ignorieren, um politische Erfolge zu erzielen“, erklärt der Experte, der als ein internationales Mitglied der kenianischen Wahrheitskommission angehört. Langfristig führe es aber bestenfalls zu einem Stillstand der Entwicklung - und schlimmstenfalls zu einer Wiederholung der schlimmsten Gewalt, die das Land bisher erlebt habe.

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