Kiew nach den Raketenangriffen auf Mariupol Die Stadt der Angst

Kaum ein Ort in Kiew, an dem nicht Miliz oder Militär Streife laufen: Nach dem Raketenangriff auf die Hafenstadt Mariupol mit mindestens 30 Toten ist die Angst vor dem Terror in der ukrainischen Hauptstadt groß.

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Sie patrouillieren verstärkt in Kiew: Milizionäre, Soldaten und Polizisten. Quelle: dpa

Kiew Iwana fühlt sich ohnmächtig – und sie hat Angst. Angst davor, dass es Kiew so ergehen könnte wie Mariupol, die südostukrainischen Hafenstadt, die am Wochenende von Raketen beschossen wurde. Mindestens 30 Menschen starben, mehr als 100 wurden verletzt. Russland und die Ukraine schieben sich gegenseitig die Schuld zu.

Doch für Iwana (Name geändert), die als Kellnerin in einem italienischen Restaurant in Kiew arbeitet, ist klar: „Unser Angreifer heißt Russland. Das ist eine Weltmacht mit Atomwaffen. Gegen dieses Land können wir Ukrainer alleine niemals bestehen.“ Und sie glaubt nicht, dass die politische Führung in Kiew mit dem aktuellen Problem alleine fertig werde.

Die junge Frau macht sich große Sorgen: „Jeden Tag hört man im Radio oder Fernsehen, dass es irgendwo im Land Anschläge gegeben hat. Züge und Busse in den Osten fahren teilweise nur eingeschränkt. In Odessa gibt es fast täglich Bombendrohungen, und auch bei uns in Kiew patrouillieren immer mehr Soldaten und Polizisten. Das war bislang anders“, sagt die 25-Jährige.

Es gibt kaum einen öffentlichen Ort, an dem nicht mindestens die Miliz Streife läuft. Einige Shoppingzentren werden sogar vom Militär bewacht, das selbe gilt für große Hotels, für die beiden Kiewer Flughäfen sowie dem Bahnhof. Nachdem es in den Städten Odessa und Charkiw Anfang dieses Jahres mehrfach zu Sprengstoffanschlägen auf Restaurants, Wasserleitungen und auf öffentliche Gebäude kam, herrscht im ganzen Land erhöhte Alarmbereitschaft.

Immer wieder sperren die Sicherheitskräfte seit dem Sommer U-Bahnstationen und erhöhen die Kontrolle an neuralgischen Punkten wie Bahnhöfen. Bürgermeister Vitali Klitschko hat sich deswegen bereits im Herbst an seine Parteifreunde in Deutschland gewandt. Der Berliner Innensenator Frank Henkel hat ihm daraufhin Hilfe zugesagt. Seitdem berät die Berliner Polizei ihre Kollegen in Kiew. Auch Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann wurde um Hilfe gefragt und hat sie zugesagt. Wie das konkret aussieht, darüber herrscht Schweigen.

Doch das alltägliche Bild hat sich in Kiew verändert: In der Innenstadt halten immer mal wieder Busse voller Sicherheitskräfte, die beginnen Streifen für die Innenstadt zusammenzustellen. Das geschah lange in unregelmäßigen Abständen, aber seit Herbst sind das regelmäßige Szenarien.

Außerdem wurden bereits in Autos und Wohnungen bereits Sprengstoff und Waffen gefunden. Eine weitere Gefahr geht von den Mitgliedern der bewaffneten Freiwilligen Bataillone aus. Interne Streitigkeiten werden oft mit Schusswaffen oder Handgranaten ausgetragen. Eine Boulevardzeitung berichtete vor Kurzem, Handfeuerwaffen seien ab 300 Dollar zu haben.


Die Regierung rechnet mit weiteren Anschlägen

Iwana ist am vergangenen Sonntag auf den Unabhängigkeitsplatz in der Kiewer Innenstadt gegangen, um dort eine Kerze für die Opfer in Mariupol anzuzünden. „Ich muss einfach etwas tun, um zu zeigen, dass ich an diese Menschen denke“, sagt Iwana. Doch schon im nächsten Satz sagt sie: „Ich weiß, dass das einfache Volk nichts gegen einen solchen Krieg ausrichten kann.“

Wie der Kellnerin Iwana geht es vielen in Kiew. Auch Alexander macht sich Sorgen. Er ist zusammen mit seiner Frau und seinen Eltern im vergangenen Sommer aus der Ostukraine nach Kiew geflüchtet. Die Familie hatte dort ein Elektronikfachgeschäft betrieben.

Au welcher Stadt sie kommen, will Alexander nicht sagen. „Ich werde verfolgt und verstecke mich gewissermaßen in Kiew“, sagt der Mann und zieht an seiner Zigarette. In der Hauptstadt will der Unternehmer nicht bleiben. Er habe Ausreiseanträge gestellt und wolle in ein EU-Land, berichtet er vage. Wohin es gehen soll, verrät er nicht. Nur soviel: „Es gibt eine Reihe osteuropäischer EU-Staaten, in denen ich mir meine Zukunft vorstellen kann. Ich habe eine gute Ausbildung, Berufserfahrung und Geld ist auch noch etwas da“, sagt der Unternehmer.

Zusammen mit seinem Vater sei er in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder die verschiedensten Varianten durchgegangen. Jedes Mal sei man zu dem Ergebnis gekommen, dass es derzeit keine sicheren Zukunftsperspektiven für und in der Ukraine gebe.

„Keiner kann sagen, was in einem Vierteljahr oder im nächsten Winter sein wird“, sagt auch Kellnerin Iwana. Sie hofft, dass ihr Arbeitsplatz erst einmal sicher ist. Obwohl neben der politischen Lage auch die wirtschaftliche Lage immer dramatischer wird – die Lebenshaltungskosten in der Hauptstadt haben sich innerhalb der vergangenen zwölf Monate für einige Güter um bis zu 200 Prozent erhöht –, glaubt Iwana, dass ihr Chef sie nicht entlässt.


Ministerpräsident Jazenjuk hat erhöhte Alarmbereitschaft ausgerufen

Die junge Frau wünscht sich, dass der Frieden bald zurückkommt. Ihr machen die vielen Medienberichte Angst. Denn fast täglich wird berichtet, dass es nun auch immer häufiger Warnungen vor möglichen Terroranschlägen in Kiew gibt. Und tatsächlich, wer in den vergangenen Wochen mit offenen Augen durch die Innenstadt oder durch Einkaufszentren gelaufen ist, dem sind die vielen Sicherheitspatrouillen aufgefallen.

Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk hat nun auch offiziell die erhöhte Alarmbereitschaft für die gesamte Ukraine ausgerufen, dieser Schritt bedeute aber auf keinen Fall Einschränkungen von Rechten und Freiheiten. Zwar wurden diese Maßnahmen als „reine Schutzvorkehrungen“ bezeichnet, doch die Sicherheitsmaßnahmen machen klar: Die ukrainische Regierung rechnet mit weiteren Anschlägen wie dem in Mariupol.

Iwana mag an solche Szenarien nicht denken. Sie hat noch immer die Bilder vom Januar und Februar 2014 im Gedächtnis. Damals kamen bei Demonstrationen mehr als 100 Menschen ums Leben. Nach dem Sturz der damaligen Regierung, war sie der Meinung, dass die Gewalt nun ein Ende habe.

Doch es kam anders. Seit fast einem Jahr herrscht im Osten der Ukraine Krieg. Russland hat sich gewaltsam die Halbinsel Krim einverleibt und nun kommt der Terror, wenn auch schrittweise, in die anderen Landesteile. Auch Alexander hat kein gutes Gefühl, was die nähere Zukunft seines Landes angeht. „Jeden Monat, den wir hier in Kiew sind und warten, ist verlorene Zeit. Ich hoffe sehr, dass es mit meiner Ausreise bald klappt“, sagt er.

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