Knauß kontert

Erdogan liquidiert die Freiheit – der Westen schweigt

Seite 2/2

Ein düsteres Bild der Lage

Nicht nur in den Kurdengebieten, sondern in der gesamten Türkei werden unter dem Vorwand der Bekämpfung der Putschisten die Fundamente der säkularen Zivilgesellschaft geschliffen - obwohl der Putsch nach offizieller Lesart ein Werk der islamistischen Gülen-Bewegung gewesen sein soll. Unliebsame Professoren leiden unter Schikanen, zum Beispiel Reiseverboten.

Viele werden entlassen. Fuecks berichtet von einem Mediziner, der ohne Pensionsansprüche geschasst wurde, weil er einen Aufruf zur friedlichen Beilegung des Kurden-Kriegs unterschrieben hat.

Rund 1000 weltliche Schulen und einige Privatuniversitäten müssen schließen. Das traditionsreiche Kadiköy Anadolu Lisesi, ein einst von Franziskanern gegründetes Gymnasium, in dem auch auf Englisch und Deutsch unterrichtet wird, soll offenbar in eine islamistische Imam-Schule umgewandelt werden, so hört man aus Wissenschaftlerkreisen. Das hätte auch Symbol-Wirkung, da die Schule sich in einem beliebten Ausgehviertel befindet.

"Wer dieser Tage mit Bürgerrechtlern, Intellektuellen, entlassenen Journalisten und oppositionellen Parlamentariern spricht, bekommt ein düsteres Bild der Lage“, berichtet Fuecks aus Istanbul. Er spricht von einem „Staatsstreich von oben“:  Unter dem Vorwand des Putsches wurden rund 3500 Richter (darunter zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts) und 10.000 Lehrer entlassen, 23 Fernseh- und Rundfunkstationen geschlossen, rund 120 Journalisten verhaftet.

Fazit: Die Türkei unter der AKP-Herrschaft wahrt nicht mal mehr die Fassade der Rechtsstaatlichkeit. Das Land unterscheidet immer weniger von einer offenen islamistischen Diktatur.

Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis

Und was tut der Westen, was tut Deutschland? Man sollte meinen, dass heftige Diskussionen darüber ausbrechen, was es bedeutet, mit einen islamistischen Staat in der NATO verbündet zu sein? Man kann nur hoffen, dass es diese Erörterungen in den Hinterzimmern der Mächtigen in westlichen Hauptstädten gibt. Auf öffentlicher Ebene hört man kaum davon. Schon gar nicht in Berlin.

Stattdessen kommt es zu kaum verschleierten Unterwerfungsgesten, zuletzt zu dieser: Das Auswärtige Amt sagte ein Konzert zum Gedenken an den Völkermord an den Armeniern im deutschen Generalkonsulat in Istanbul ab. Die Dresdner Sinfoniker hatten zuvor Erdogan und seine Regierung zu der am 13. November geplanten Veranstaltung eingeladen. Aus Berlin verlautete dazu: „Einladungen zu der Veranstaltung sind ohne Beteiligung des Auswärtigen Amtes erfolgt.“ Man distanziert sich – auf türkischen Druck hin – von einem Projekt, das die Bundesregierung selbst mitfinanziert hat.

Die Hoffnung, dass die Entwestlichung und Islamisierung der Türkei sich noch aufhalten lassen, schwindet. Der Westen selbst tut wenig bis nichts, um den Anhängern seiner Ideale in der Türkei den Rücken zu stärken. Wie gelähmt schaut man von Washington bis Berlin dem Zerfall der einst westlich orientierten Türkei zu. Erdogan und sein Regime führen der gesamten Welt und vor allem den Muslimen überdeutlich vor Augen, wie schwach der Westen ist, wenn es um die Bewahrung von Freiheit und Demokratie geht.

Übrigens: In diesen Tagen jährt sich zum 60. Mal der Aufstand in Ungarn gegen die sowjetische Fremdherrschaft. 1956 traute sich die NATO nicht, dem um seine Freiheit kämpfenden Ungarn beizustehen. Damals gab es einen überzeugenden Grund dafür: Es drohte ein Atomkrieg.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%