Nicht nur in den Kurdengebieten, sondern in der gesamten Türkei werden unter dem Vorwand der Bekämpfung der Putschisten die Fundamente der säkularen Zivilgesellschaft geschliffen - obwohl der Putsch nach offizieller Lesart ein Werk der islamistischen Gülen-Bewegung gewesen sein soll. Unliebsame Professoren leiden unter Schikanen, zum Beispiel Reiseverboten.
Viele werden entlassen. Fuecks berichtet von einem Mediziner, der ohne Pensionsansprüche geschasst wurde, weil er einen Aufruf zur friedlichen Beilegung des Kurden-Kriegs unterschrieben hat.
Rund 1000 weltliche Schulen und einige Privatuniversitäten müssen schließen. Das traditionsreiche Kadiköy Anadolu Lisesi, ein einst von Franziskanern gegründetes Gymnasium, in dem auch auf Englisch und Deutsch unterrichtet wird, soll offenbar in eine islamistische Imam-Schule umgewandelt werden, so hört man aus Wissenschaftlerkreisen. Das hätte auch Symbol-Wirkung, da die Schule sich in einem beliebten Ausgehviertel befindet.
"Wer dieser Tage mit Bürgerrechtlern, Intellektuellen, entlassenen Journalisten und oppositionellen Parlamentariern spricht, bekommt ein düsteres Bild der Lage“, berichtet Fuecks aus Istanbul. Er spricht von einem „Staatsstreich von oben“: Unter dem Vorwand des Putsches wurden rund 3500 Richter (darunter zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts) und 10.000 Lehrer entlassen, 23 Fernseh- und Rundfunkstationen geschlossen, rund 120 Journalisten verhaftet.
Fazit: Die Türkei unter der AKP-Herrschaft wahrt nicht mal mehr die Fassade der Rechtsstaatlichkeit. Das Land unterscheidet immer weniger von einer offenen islamistischen Diktatur.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
Und was tut der Westen, was tut Deutschland? Man sollte meinen, dass heftige Diskussionen darüber ausbrechen, was es bedeutet, mit einen islamistischen Staat in der NATO verbündet zu sein? Man kann nur hoffen, dass es diese Erörterungen in den Hinterzimmern der Mächtigen in westlichen Hauptstädten gibt. Auf öffentlicher Ebene hört man kaum davon. Schon gar nicht in Berlin.
Stattdessen kommt es zu kaum verschleierten Unterwerfungsgesten, zuletzt zu dieser: Das Auswärtige Amt sagte ein Konzert zum Gedenken an den Völkermord an den Armeniern im deutschen Generalkonsulat in Istanbul ab. Die Dresdner Sinfoniker hatten zuvor Erdogan und seine Regierung zu der am 13. November geplanten Veranstaltung eingeladen. Aus Berlin verlautete dazu: „Einladungen zu der Veranstaltung sind ohne Beteiligung des Auswärtigen Amtes erfolgt.“ Man distanziert sich – auf türkischen Druck hin – von einem Projekt, das die Bundesregierung selbst mitfinanziert hat.
Die Hoffnung, dass die Entwestlichung und Islamisierung der Türkei sich noch aufhalten lassen, schwindet. Der Westen selbst tut wenig bis nichts, um den Anhängern seiner Ideale in der Türkei den Rücken zu stärken. Wie gelähmt schaut man von Washington bis Berlin dem Zerfall der einst westlich orientierten Türkei zu. Erdogan und sein Regime führen der gesamten Welt und vor allem den Muslimen überdeutlich vor Augen, wie schwach der Westen ist, wenn es um die Bewahrung von Freiheit und Demokratie geht.
Übrigens: In diesen Tagen jährt sich zum 60. Mal der Aufstand in Ungarn gegen die sowjetische Fremdherrschaft. 1956 traute sich die NATO nicht, dem um seine Freiheit kämpfenden Ungarn beizustehen. Damals gab es einen überzeugenden Grund dafür: Es drohte ein Atomkrieg.