Knauß kontert

Warum Deutschland Integrationskraft fehlt

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Die türkischen Fahnenmeere der Erdoğan-Fans offenbaren eine deutsche Lebenslüge: Integration ist keine Funktion des Arbeitsmarktes. Fremde einbinden kann nur eine Gesellschaft, die sich nicht gleichzeitig selbst auflösen will.

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Flagge der Bundesrepublik. Quelle: dpa Picture-Alliance

Vor dem Düsseldorfer Familienministerium hängt eine deutsche Fahne am Mast. Sie gibt ein Bild des Jammers ab: verblichen und zerrissen. Einige Fetzen von ihr sind in den Ästen des daneben stehenden Baums hängen geblieben. Offenbar kommt seit Monaten niemand auf den Gedanken, die Fahne zu erneuern und endlich einmal die störenden Äste abzusägen, damit sie frei wehen kann.

"Annäherung an die EU immer schwieriger"
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: dpa
Außenminister Sigmar Gabriel Quelle: dpa
Bundesjustizminister Heiko Maas Quelle: AP
FDP-Bundesvorsitzener Christian Lindner Quelle: dpa
Grünen-Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu Quelle: dpa
Axel-Springer- Vorstandschef Mathias Döpfner Quelle: dpa
Menschenrechtsorganisation Amnesty International Quelle: REUTERS

Was für ein Gegensatz zu den jüngsten Bildern türkischer Fahnenmeere in Deutschland! Zigtausende Türkeistämmige, die meisten von ihnen vermutlich hier geboren, zeigen damit, dass sie kein Teil der deutschen Gesellschaft sein wollen, sondern sich zu ihrem Herkunftsland bekennen. Sie bekennen sich zu einem Mann, der in einem aktuell auch in deutschen Kinos gezeigten Propaganda-Film als „Reis“ (Oberhaupt) verherrlicht wird. Der ihr Wohnland mit Nazi-Vorwürfen überschüttet und sie gleichzeitig in völkischer Manier auffordert, fünf Kinder zu kriegen, um die Zukunft dieses Landes, also Deutschlands, zu bestimmen. Zu einem Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, der ganz Europa „Religionskriege“ in Aussicht stellt. Zu einem Regime, das in der Türkei oppositionelle Politiker, Journalisten, Wissenschaftler, Beamte, Offiziere und Angehörige von Minderheiten ohne rechtstaatliche Verfahren einsperren lässt.

Was Deutschland derzeit erlebt, ist erschütternd im Wortsinne. Es wird deutlich, dass vermeintliche Grundlagen, auf denen die absehbare Zukunft der Bundesrepublik Deutschland errichtet werden soll, höchst zerbrechlich sind, ja, vielleicht schon zerbrochen sind. Angesichts der in Deutschland lebenden Erdoğan-Fans kann man nicht mehr davon ausgehen, dass aus all den Millionen Migranten in Deutschland und noch vielen Millionen künftigen Zuwanderern problemlos „Die neuen Deutschen“ werden, die der Politologe und Merkel-Berater Herfried Münkler in seinem gleichnamigen Buch beschreibt.

„Leider verlieren wir einen großen Teil der türkischen Community an Erdoğan“, sagt Burak Çopur vom Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen. Das ist, fast 56 Jahre nach der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens von Bad Godesberg, eine niederschmetternde Feststellung.

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa sind auf einem Tiefpunkt. Nach Entspannung sieht es nicht aus. Im Gegenteil: Der türkische Präsident Erdogan und sein Außenminister legen nach.

Was sind die Gründe für die gescheiterte Integration? Und was ist daraus für die Zukunft zu folgern?

Diskriminierung, sagt Çopur, sei eine prägende Erfahrung der hier lebenden Türkeistämmigen. Auf der anderen Seite komme die Nichtlösung von der Kultur des Herkunftslands dazu. Möglicherweise ist beides bei näherer Betrachtung fast ein und dasselbe. Die desinteressierte bis ablehnende Distanz der Deutschen und die Einigelung der Türkeistämmigen in Islam und Türkentum bedingen sich vermutlich gegenseitig, solange der Teufelskreis nicht unterbrochen wird. Vermutlich war zur Zeit der Gastarbeiter offene Diskriminierung wirklich eine Ursache für Frust und Ressentiments bei vielen in Deutschland lebender Türken. Doch eine rassistische Abneigung gegen Türken dürfte, wenn man Umfragen glaubt, mittlerweile Gott sei Dank nur noch eine sehr kleine Minderheit der Deutschen betreffen.

Der Konstruktionsfehler des Einwanderungslandes Deutschland in der Gegenwart ist ein anderer.

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