Kölner Übergriffe Das alltägliche Tabu-Verbrechen

Vergewaltigungen regen die Öffentlichkeit nur auf, wenn sie von Fremden oder Flüchtlingen begangen werden. Anders bei der sexuellen Gewalt von deutschen Männern an Frauen. Was getan und gesagt werden muss: ein Kommentar.

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Warum die Übergriffe in Köln für so viel Aufregung sorgen, obwohl jährlich auf dem Oktoberfest ebenfalls viele Sexualstraftaten vorkommen, fragt sich Handelsblatt-Reporter Rüdiger Scheidges. Quelle: dpa

Berlin Völlig zu Recht und – Gott sei Dank! – zeigen sich große Teile der Öffentlichkeit entgeistert über die auch sexuellen Angriffe von „Nordafrikanern und arabisch aussenden Menschen“ auf deutsche Frauen. Gewalt ist Gewalt, wer immer sie gegen wen auch immer ausführt. Gewalt gehört sanktioniert. Deshalb ist es auch vernünftig, dass der Bundestag die einschlägigen Gesetze verschärfen und die Abschiebung von solchen Ausländern erleichtern will, die Straftaten begangen haben.

Wie aber reagiert die deutsche Öffentlichkeit auf viel gnadenlosere Übergriffe deutscher Männer gegen deutsche oder ausländische Frauen? Beispielsweise wenn deutsche Männer italienische oder britische oder niederländische oder französische oder koreanische Frauen oder japanische Frauen vergewaltigen. Wie bitte, Sie haben davon noch nie etwas gehört? Und können sich deshalb auch nicht echauffieren?

Informieren Sie sich! Lesen Sie zum Beispiel die jährlich im Internet veröffentlichten Auszüge aus den Polizeiberichten der Münchner Polizei. Sie werden glauben, dass sie nicht in Deutschland leben, sondern in Vergewaltistan. Im groben Durchschnitt über die Jahre werden während der Münchner Wies’n-Tage bis zu zehn Frauen vergewaltigt. Und wie auf der Kölner Domplatte spielt Alkohol bei Tätern und Opfern eine große Rolle.

Bürgerrechts- und Frauenorganisationen jedenfalls schätzen, dass die Dunkelziffer der gewalttätigen Übergriffe allein beim Oktoberfest noch viel höher liegt. Sie gehen von rund 200 nicht gemeldeten Sexualstraftaten pro Jahr aus. Diese Dunkelziffer ist offenbar aus Scham so hoch. Aus Scham, Opfer eines Sexualdelikts geworden zu sein. Und als Scham davor, fortan mit dem Makel des alkoholisierten Wies’n-Opfers – „bist ja selber schuld“ – zu gelten.

Die im Internet zu lesenden Polizeiberichte sind ekelhaft, abstoßend, zum Teil so grausam-grotesk, das ich sie hier nicht wiedergeben möchte. Sie sprengen in der dreisten Selbstverständlichkeit der Gewaltausübung jegliches Vorstellungsvermögen.

Doch sie künden alle dasselbe, von zweierlei nämlich: Und zwar von unglaublich rüder Gewaltanwendung gegen die betroffenen Frauen ebenso wie einer nicht minder unglaublichen Chuzpe, diese Schwerkriminalität am helllichten Tag, auf öffentlichen Grünflächen und Wegen sowie unter dem blau-fröhlichem Wies´n-Himmel zu begehen.


Was sich auf dem „Kotzhügel“ abspielt

Natürlich sind die Gewalttaten auf dem Oktoberfest keine bayerische Spezialität. Doch diese Verbrechen finden ohne anonymisierende Maskierung, ohne Schutz der Dunkelheit, offenbar ohne jegliches Unrechts- und Schamgefühl statt. Jahr für Jahr, immer im goldenen Oktober. Sie schreit uns also direkt an, die Frage: Warum wird das nicht so publik, warum regt das nicht so sehr auf wie die vergleichsweise weniger schwerwiegenden Straftaten in Köln?

Die Zahlen sprechen für sich: Nach den Statistiken des Bundeskriminalamtes erfolgen pro Jahr in Deutschland zwischen acht und neun Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen pro 100.000 Einwohner.

Bei 82 Millionen Einwohnern bedeutet dies, dass im Durchschnitt seit Jahrzehnten fast 8.000 Frauen innerhalb eines Jahres Opfer von Vergewaltigungen und anderer sexuellen Nötigung werden. Und hierbei handelt es sich nur um die bei den Behörden angezeigten Delikte. Die Dunkelziffer (domestic violence, Vergewaltigungen in Ehe und Familie oder im Abhängigen-Verhältnis) liegt nach Einschätzung der Experten auch hier beträchtlich höher.

Kann es denn sein, dass diese Taten nicht so aufregen, weil meist keine ausländischen Täter involviert sind sondern allenfalls ausländische weibliche Opfer? Oder etwa weil die meisten Täter in Sold und Brot stehen und mit anständigem, fluchtfreien Lebenswandel und einwandfreiem, scheinbar ehrenwertem Familienleben dienen können?

Oder etwa, weil auch in München die Polizei auf der Wies´n lieber fröhlich als griesgrämig ist? Weil vielleicht wie in Köln auch in München die Einsatzleitung nicht informiert ist, was sich auf dem „Kotzhügel“ – so wird ein Bereich hinter den Oktoberfest-Zelten genannt, indem zu späterer Stunde alles ziemlich drunter und drüber geht – und hinter abgestellten Lastwagen tagtäglich an Gewalt abspielt?


Maßnahmen für Karneval?

Kein Verbrechen, schon gar kein Brachialverbrechen relativiert ein anderes. Keine Nationalität sorgt für strafmindernde oder straferschwerende Umstände. Das einzige, was zählt, ist die Gewalt. Vor der sind alle Frauen gleich und gleich hilflos.

Und für deren Anwendung müssten alle gleich gerade stehen, vor dem Kadi. Diese „Gleichheit vor dem Verbrechen“ gebietet es aber uns allen, solcher alltäglichen Gewalt ohne Ansehen von Nationalität oder Hautfarbe ins Gesicht zu schauen.

Man muss jedoch bezweifeln, dass dies die Regel ist – weder in der Politik noch in den Medien. Und vielleicht nicht einmal bei den Strafverfolgungsbehörden. Sonst könnten wir die Kölner Vorfälle, ohne sie wie gesagt zu relativieren, besser in ein Gesamtbild der Gewalt einordnen.

Fragen über Fragen, Probleme über Probleme, die öffentlich endlich diskutiert werden wollen – diesseits der Straftaten durch Ausländer und auch jenseits der Möglichkeit alle (deutschen) Sexualstraftäter abschieben zu können. Am besten sollten diese Fragen einmal besprochen werden. Vor der nächsten Wies’n und vielleicht auch schon vor dem nächsten Karneval.

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