Kommentar zur Zukunft der Türkei Erdogans zweifelhafter Sieg

Die neue Türkei wird eine starke Türkei sein. Das glaubt die Regierungspartei AKP nach dem Referendum über die weitreichende Verfassungsänderung. Tatsächlich schwächt der knappe Sieg Präsident Erdogan gleich doppelt.

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Seine Gegner zweifeln den ohnehin knappen Sieg an und wollen die Abstimmung anfechten. Quelle: AP

Jetzt soll alles besser werden. Die Türkei soll besser regiert, Reformen effizienter angegangen, die Spaltung überwunden werden und vor allem: Die neue Türkei wird eine starke Türkei sein. Das glaubt die türkische Regierungspartei AKP nach ihrem knapp erkämpften Sieg beim Referendum über eine weitreichende Verfassungsänderung.

Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat dabei aber eine wichtige Variable vergessen: diejenigen Staaten, für die eine weitere Schwächung der Türkei von Vorteil ist. Der knappe Sieg beim Referendum, die Unzufriedenheit vieler Bevölkerungsgruppen im Land und eine kränkelnde Wirtschaft machen Erdogan und die Türkei viel mehr zur leichten Beute.

Die vom Volk abgesegneten Änderungsanträge für die Verfassung sind weitreichend. Sie sehen unter anderem vor, dem Präsidenten erheblich mehr Macht einzuräumen. Dagegen haben viele verschiedene Gruppen gestimmt: Stadtbewohner und junge Menschen genauso wie eine zunehmende Zahl Kurden, ebenso zahlreiche linke und andere oppositionelle Gruppen. Es fehlt ein gesellschaftlicher Konsens, hinzu kommt eine wirtschaftliche Schieflage. 

Die meisten Änderungen werden nicht sofort umgesetzt, sondern erst mit der nächsten Parlamentswahl, die spätestens am 3. November 2019 stattfinden wird. Genug Zeit also, um das Land weiter zu destabilisieren. Im Moment bemüht sich die Türkei zwar, mit ihren einstigen Feinden reinen Tisch zu machen. Der Streit mit Russland ist fast beiseite gelegt, ebenso der mit Israel. 

Aber für die Nachbarländer Syrien und Irak sowie den Iran könnte es von Vorteil sein, wenn die Türkei weniger handlungsfähig ist. Ganz zu schweigen von radikalen Kurdengruppen oder dem IS, die vom Chaos leben. Aber auch der Kreml, dem Einfluss auf die Wahlen in Frankreich und möglicherweise auch in Deutschland unterstellt wird, sieht jetzt, wie leicht es sein wird, das immer tiefer gespaltene Land weiter zu destabilisieren.

Das hätte handfeste Vorteile für die Nachbarstaaten. Eine geschwächte Türkei würde dem Land einerseits den Status als muslimischer Vorzeigestaat in der Region nehmen. Damit würde die Türkei internationalen Einfluss verlieren. Länder wie der Iran stehen bereit, diese Rolle einzunehmen. Andererseits würde eine weitere Schwächung der Türkei ihre geostrategisch äußerst wichtige Lage relativieren. Ein Zwist der Türkei mit seinen Nato-Partnern würden vielen Anrainern nützen. 

Daher könnten nun realpolitisch handelnde Staatsführer in der Region versuchen, das Land vollends in die Knie zu zwingen. Die Bedingungen scheinen günstig: eine in sich gespaltene Gesellschaft, die Wirtschaft in einer Abwärtsspirale und schlechte Aussichten, was die Integration etwa in die EU angeht.

Erdogan, der ja gerne die Türkei als ein von Feinden umgebenes Land zeichnet, hat seine Prophezeiungen nun selbst wahrgemacht. Mit dem Referendum hat sich Erdogan zwar seine Macht gesichert. Aber auch offenbart, wie schlecht er das Land tatsächlich unter Kontrolle hat. 

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