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Sobald es aber um Wladimir Putin und des Kremls Politik in der Ukraine geht, bleibt die Sachlichkeit vieler auf der Strecke. Antiamerikanismus verdrängt nüchterne Debattenbeiträge, Fakten gehen im Meer der Verschwörungstheorien unter, plumpe Relativierungen verhageln jede konstruktive Kritik. Ist Wladimir Putin wirklich der Herrscher, nach dem sich die Deutschen sehnen? Sind ihre Lobhudeleien gekauft? Oder sind die Vorzüge der hiesigen Wohlstandsgesellschaft so selbstverständlich geworden, dass sie sich mangels eigener Probleme imaginäre Feinde wie den US-Kapitalismus selber schaffen? Das sind Fragen, die wir an dieser Stelle wohl kaum beantworten werden. Allerdings mag es in der aufgeheizten Debatte weiterhelfen, einige Mythen über Putins Ukraine-Politik nüchtern zu betrachten.
1. Russland schürt den Krieg in der Ost-Ukraine nicht, Putin will nur schlichten
Man muss die Augen ziemlich fest zukneifen, wenn man die technische und personelle Beteiligung der Russen bei der Rebellion in der Ost-Ukraine übersehen will. Die meisten Teilnehmer des Aufstands kommen aus Russland – die kaukasische Herkunft ist ihnen anzusehen. Wer sie bezahlt und verpflegt, weiß man nicht. Dass Waffen aus Russland in die Hände der Separatisten gelangt sind, ist indes über zig Fotos nachgewiesen. Offen bleibt, wer die Waffenlieferungen organisiert und finanziert. Sicher ist unterdessen, dass die russische Regierung die Versorgung der anti-ukrainischen Kämpfer duldet, indem die Grenzen löchrig gehalten werden. Zudem betreibt das Moskauer Staatsfernsehen praktisch rund um die Uhr einen Informationskrieg gegen Kiew, wo angeblich eine „faschistische Junta“ an der Macht ist. Schlichten geht anders.
2. Flug MH-17 haben die Ukrainer abgeschossen, um die Separatisten zu belasten
Bis heute fehlen hieb- und stichfeste Beweise, wonach Separatisten das malaysische Flugzeug MH-17 abgeschlossen haben. Die Verantwortung für den Tod von 298 Passagieren versuchen Separatisten ebenso wie russische Medien und windige Verschwörungstheoretiker der Kiewer Regierung zuzuschieben. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass ein Kampfjet der ukrainischen Armee die Maschine abgeschossen hat, zumal die Separatisten bislang keinen Luftkrieg führen. Umgekehrt deutet alles darauf hin, dass die Rebellen den Flieger in elf Kilometern Höhe irrtümlich abgeschossen haben. Rebellenführer rühmten sich in sozialen Medien und russischen Online-Portalen mit dem Abschuss eines Militärflugzeugs vom Typ Antonow-26 in der Region Horliwka – bis sie die Trümmer der Boeing fanden.
Fragen und Antworten zum Absturz von MH17
Nein. Der OSZE-Forderung, nichts an der Absturzstelle zu verändern, wurde nach Angaben einer Sprecherin zumindest nicht gänzlich nachgekommen. So seien Gepäckstücke von Flugzeuginsassen fein säuberlich aufgereiht worden. Ein anderer OSZE-Vertreter berichtete, am Samstag seien Leichen von Passagieren des Flugs MH17 von Unbekannten in Plastiksäcke gepackt und an den Straßenrand gebracht worden, ohne dass die OSZE-Experten Erklärungen dafür erhielten.
Nein. Sowohl die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als auch die ukrainische Regierung haben sich auch am zweiten Tag nach der Katastrophe beschwert, dass die prorussischen Separatisten die Arbeit der Experten massiv behindern, die bereits jetzt vor Ort sind. Die Ermittler können sich nach den Angaben nicht völlig frei bewegen und stehen unter Aufsicht schwer bewaffneter Rebellen. Inzwischen sollen die Aufständischen nach ukrainischen Angaben immerhin einer „Sicherheitszone“ rund um die Absturzstelle zugestimmt haben.
Das ukrainische Innenministerium hat in Charkow für Angehörige und Hinterbliebene der Opfer Hunderte Hotelzimmer reserviert. In der Großstadt stünden auch Übersetzer und Psychologen bereit. Noch ist es nach Angaben der Fluggesellschaft Malaysia Airlines nicht in allen Fällen möglich gewesen, Familienangehörige ausfindig zu machen.
Noch sind längst nicht alle 298 bei dem Absturz getöteten Insassen der malaysischen Passagiermaschine entdeckt worden. Zudem herrschen in dem Gebiet Temperaturen von um die 30 Grad. Nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums wurden die sterblichen Überreste der Passagiere und Besatzungsmitglieder nach Charkow gebracht, weit weg von den Gefechten. In der etwa 300 Kilometer von der Absturzstelle entfernten Stadt werde ein Labor zur Identifizierung eingerichtet, hieß es. Separatisten wiederum kündigten an, die Leichen würden in Mariupol identifiziert.
Das ist noch immer nicht definitiv geklärt. Viele Länder, die Opfer zu beklagen haben, schicken eigene Experten in die Ukraine. Dort ist die Lage aber nach Angaben des Bundeskriminalamtes recht unübersichtlich. Sowohl der genaue Einsatzort als auch die Führung der Mission müssten noch geklärt werden, sagte ein Sprecher. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) schlug in einem Brief an die Internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) die Einsetzung einer aus mehreren Nationen besetzten Untersuchungskommission vor. Deutschland biete für einen Einsatz unter der Leitung der ICAO die Unterstützung der Experten der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung an, sagte Dobrindt „Focus Online“.
Das Gebiet östlich von Donezk, in dem die Trümmer der abgestürzten Maschine liegen, ist riesig. Die Wrackteile sind nach Angaben des ukrainischen Rettungsdienstes über eine Fläche von etwa 25 Quadratkilometern verstreut. Das entspricht in etwa der Größe der ostfriesischen Insel Norderney. Wo die Flugschreiber sind, ist weiterhin nicht definitiv geklärt. Sie könnten in den Händen der Aufständischen sein. Separatistenanführer Alexander Borodaj sagte, die Black Boxes könnten dem Internationalen Roten Kreuz übergeben werden.
3. Die ukrainische Armee führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung
Ein Standardsatz der russischen Propaganda, der auf jeden Bürgerkrieg der Welt übertragbar wäre: Wo Krieg herrscht, gibt es immer auch Opfer unter der eigenen Zivilbevölkerung. Das ist die Tragik des Krieges: Ein Artilleriebataillon zielt auf ein Haus, aus dem der Gegner schießt – und trifft das Gebäude nebenan, wo friedliche Menschen getroffen werden. Dass sich Separatisten absichtlich in Wohngebieten verschanzen ist ebenso wenig bestätigt wie gezielte Morde vonseiten der ukrainischen Armee. Sicher ist indes, dass die Kriegsparteien so schlecht ausgestattet und ausgebildet sind, dass „Kollateralschäden“ besonders häufig vorkommen. Gegen die eigene Bevölkerung kämpft die ukrainische Armee dennoch nicht, zumal Kiew nach dem Konflikt irgendwie die Einheit des Landes wiederherstellen muss.