Krieg in Osteuropa 10 Mythen über Putin und die Ukraine

Noch immer ist die Ukraine-Krise nicht gelöst – doch im Netz wimmelt es von anonymen Schreiberlingen, die Putin als Helden vergöttern. Zeit, ein paar Dinge klarzustellen.

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Quelle: dpa

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Sobald es aber um Wladimir Putin und des Kremls Politik in der Ukraine geht, bleibt die Sachlichkeit vieler auf der Strecke. Antiamerikanismus verdrängt nüchterne Debattenbeiträge, Fakten gehen im Meer der Verschwörungstheorien unter, plumpe Relativierungen verhageln jede konstruktive Kritik. Ist Wladimir Putin wirklich der Herrscher, nach dem sich die Deutschen sehnen? Sind ihre Lobhudeleien gekauft? Oder sind die Vorzüge der hiesigen Wohlstandsgesellschaft so selbstverständlich geworden, dass sie sich mangels eigener Probleme imaginäre Feinde wie den US-Kapitalismus selber schaffen? Das sind Fragen, die wir an dieser Stelle wohl kaum beantworten werden. Allerdings mag es in der aufgeheizten Debatte weiterhelfen, einige Mythen über Putins Ukraine-Politik nüchtern zu betrachten.

Was die Russen in der Ostukraine wollen
Greift das russische Militär ein?Das russische Militär positioniert sich in der Ostukraine. Die Spezialeinheiten der russischen Armee stehen den pro-russischen Separatisten bei, die einen Anschluss an Russland wollen. Die Regierung in Moskau kann sich unterdessen überlegen, wie man ein weiteres Krim-Szenario erreichen könnte. 45.000 Soldaten sind bereits an der Grenze stationiert. „Ich bin äußerst beunruhigt über die weitere Eskalation der Spannung in der Ostukraine“, erklärte Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Männer mit russischen Spezialwaffen und in Uniformen ohne Abzeichen erinnerten an das Auftreten russischer Truppen bei der Annexion der Schwarzmeerhalbinsel Krim - das sei eine schwerwiegende Entwicklung. Moskau müsse seine Truppen, zu denen auch Spezialeinheiten gehörten, von der ukrainischen Grenze zurückziehen, forderte der Nato-Chef. Quelle: AP
Rund 45.000 russische Soldaten - „Dies sind beachtliche Streitkräfte von hoher Einsatzbereitschaft. Und sie sind in der Lage, sich sehr rasch zu bewegen“, sagte der britische Brigadegeneral Gary Deakin, Direktor des Zentrums für Krisenmanagement im militärischen Nato-Hauptquartier in Mons. Nach Nato-Angaben sind an mehr als 100 Standorten Artillerie, Panzerfahrzeuge, Hubschrauber, Spezialeinheiten, Kampfflugzeuge sowie die dazugehörenden Logistikeinheiten stationiert. Die meisten Einheiten befänden sich in provisorischen Unterkünften, Flugzeuge und Fahrzeuge stünden im Freien. „Das sind keine Truppen, die sich immer dort befinden, wo sie gerade sind“, sagte Brigadegeneral Deakin. Die Einheiten würden seit drei bis vier Wochen auch nicht - etwa zu Manöverzwecken - bewegt: „Es ist sehr ungewöhnlich, eine so große Truppe so lange einfach in der Landschaft stehen zu lassen.“ Quelle: REUTERS
Kämpfen russische Soldaten bereits mit?Viele sehen die russischen Soldaten als eine erneute Provokation aus Moskau. Auch US-Außenminister Kerry beschuldigt Putin. Er spricht von "russischen Provokateuren und Agenten". Viele der Separatisten sind schwer bewaffnet. Innenminister Awakow spricht von einer "Aggression der Russischen Föderation". Spiegel Online berichtet von Internet-Videos, in denen Truppen zu sehen sind, die über eine militärische Ausbildung verfügen. Diese Kämpfer der selbsternannten "Armee des Süd-Ostens" gingen bei dem Sturm der Polizei-Einheit in Slawjansk sehr geplant vor. Quelle: AP
Moskau dementiert Kiew wirft Russland offen „Aggression“ in der russisch geprägten Region vor. Moskau wolle das Gebiet durch bezahlte Provokateure destabilisieren und dann dort einmarschieren. Russlands Außenminister Sergej Lawrow wies dies mit Nachdruck zurück. Er sagte, das russische Militärs sei nicht aktiv. Während der Krim-Krise hatte Putin allerdings genau das auch behauptet. Dennoch hat Moskau offiziell offenbar noch keine regulären Einheiten in die Ostukraine verlegt. Quelle: REUTERS
Was will Russland?Moskau macht sich in der Ostukraine für die Rechte der russischsprachigen Bürger stark. Der Anteil in Donezk liegt bei etwa 70 Prozent. Spiegel Online berichtet, dass dort 33 Prozent aller Bewohner einen Anschluss an Russland befürworten. Die Regierung in Kiew hat nun ein hartes Vorgehen angekündigt. Das wiederum könnte Moskau zu weiteren Schritten provozieren. Russlands Außenminister Sergej Lawrow warnte bei einem Telefonat mit seinem US-Kollegen John Kerry, ein gewaltsames Eingreifen der Regierung in Kiew gefährde ein für Donnerstag in Genf geplantes Treffen von russischen, ukrainischen, US- und EU-Vertretern. Quelle: REUTERS
Folgen für Russland Wenn das russische Militär eingreift, könnte das zu weiteren Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland führen. Das macht eine Intervention Moskaus unwahrscheinlich. "Es geht nicht um Annexion, sondern darum, zu zeigen, dass die aktuelle ukrainische Führung nicht in der Lage ist, für Ruhe und Ordnung zu sorgen", sagt Stefan Meister, Russland-Experte des European Council on Foreign Relations, gegenüber Spiegel Online. Quelle: REUTERS

1. Russland schürt den Krieg in der Ost-Ukraine nicht, Putin will nur schlichten

Man muss die Augen ziemlich fest zukneifen, wenn man die technische und personelle Beteiligung der Russen bei der Rebellion in der Ost-Ukraine übersehen will. Die meisten Teilnehmer des Aufstands kommen aus Russland – die kaukasische Herkunft ist ihnen anzusehen. Wer sie bezahlt und verpflegt, weiß man nicht. Dass Waffen aus Russland in die Hände der Separatisten gelangt sind, ist indes über zig Fotos nachgewiesen. Offen bleibt, wer die Waffenlieferungen organisiert und finanziert. Sicher ist unterdessen, dass die russische Regierung die Versorgung der anti-ukrainischen Kämpfer duldet, indem die Grenzen löchrig gehalten werden. Zudem betreibt das Moskauer Staatsfernsehen praktisch rund um die Uhr einen Informationskrieg gegen Kiew, wo angeblich eine „faschistische Junta“ an der Macht ist. Schlichten geht anders.

2. Flug MH-17 haben die Ukrainer abgeschossen, um die Separatisten zu belasten

Bis heute fehlen hieb- und stichfeste Beweise, wonach Separatisten das malaysische Flugzeug MH-17 abgeschlossen haben. Die Verantwortung für den Tod von 298 Passagieren versuchen Separatisten ebenso wie russische Medien und windige Verschwörungstheoretiker der Kiewer Regierung zuzuschieben. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass ein Kampfjet der ukrainischen Armee die Maschine abgeschossen hat, zumal die Separatisten bislang keinen Luftkrieg führen. Umgekehrt deutet alles darauf hin, dass die Rebellen den Flieger in elf Kilometern Höhe irrtümlich abgeschossen haben. Rebellenführer rühmten sich in sozialen Medien und russischen Online-Portalen mit dem Abschuss eines Militärflugzeugs vom Typ Antonow-26 in der Region Horliwka – bis sie die Trümmer der Boeing fanden.

Fragen und Antworten zum Absturz von MH17

3. Die ukrainische Armee führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung

Ein Standardsatz der russischen Propaganda, der auf jeden Bürgerkrieg der Welt übertragbar wäre: Wo Krieg herrscht, gibt es immer auch Opfer unter der eigenen Zivilbevölkerung. Das ist die Tragik des Krieges: Ein Artilleriebataillon zielt auf ein Haus, aus dem der Gegner schießt – und trifft das Gebäude nebenan, wo friedliche Menschen getroffen werden. Dass sich Separatisten absichtlich in Wohngebieten verschanzen ist ebenso wenig bestätigt wie gezielte Morde vonseiten der ukrainischen Armee. Sicher ist indes, dass die Kriegsparteien so schlecht ausgestattet und ausgebildet sind, dass „Kollateralschäden“ besonders häufig vorkommen. Gegen die eigene Bevölkerung kämpft die ukrainische Armee dennoch nicht, zumal Kiew nach dem Konflikt irgendwie die Einheit des Landes wiederherstellen muss.

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