Krim-Krise Der holprige Weg in eine russische Zukunft

Die Krim ist ein Teil Russlands. Doch statt Gewissheit prägt Unsicherheit die Bevölkerung: Die Betriebe werden verstaatlicht, das ukrainische Recht gilt nicht mehr und das russische noch nicht. Aber es gibt Hoffnung.

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Auf dem Leninplatz in Simferopol verfolgten vergangenen Monat Hunderte die Live-Übertragung der Feiern zum Krim-Anschluss in Moskau. Quelle: dpa

Simferopol Als die Schuldirektorin Natalia Rudenko entlassen wird, dröhnen ihr noch die Ohren von der Schimpftirade eines wütenden Vaters. Seit 17 Jahren leitet die würdevolle ältere Dame ihre Schule in Simferopol auf der Krim, nun soll plötzlich alles anders sein: Der Unterricht müsse künftig auf Russisch stattfinden, verlangt der Vater erregt, nicht länger auf Ukrainisch. Kurz darauf tauchen einige Beamte im Büro der 62-Jährigen auf und feuern sie. Die Botschaft der neuen Herren könnte kaum klarer sein: Rudenko und die Lehranstalt, die ihre Schüler auf das Studium an ukrainischen Universitäten vorbereitet, haben keinen Platz mehr auf der Krim, die seit einigen Wochen faktisch zu Russland gehört.

Die ältere Dame ist erschüttert. „Ich habe diese Schule aufgebaut“, sagt sie und kämpft mit den Tränen, während schockierte Eltern und Lehrer der Direktorin mit Blumensträußen für ihre Arbeit danken. Rudenkos Entlassung ist Teil gigantischer Umwälzungen, die der Kreml seit der Eingliederung der Krim in das russische Territorium steuert. Möglichst rasch soll die Halbinsel mit ihren zwei Millionen Bewohnern eine russische Provinz bevölkert von Russen werden. Es ist eine monumentale Aufgabe, die die pro-russischen Spitzenpolitiker der Halbinsel in einer Übergangsphase bis Ende diesen Jahres stemmen wollen. Und in vielen Fällen geben sie sich dabei nicht mit Nettigkeiten und langen Verfahren ab.

Einer ihrer ersten Schritte war die Beschlagnahme praktisch aller Liegenschaften der Ukraine auf der Krim – von Energieversorgern über Häfen, Museen und Fabriken wurde alles verstaatlicht und ging in russischen Besitz über. Seit der russische Präsident Wladimir Putin die Krim am 21. März formal dem eigenen Staatsgebiet angliederte, herrscht überall Verwirrung. Die Gerichte sind gelähmt, die Banken stecken in schweren Turbulenzen, weil sich ukrainische und westliche Geldinstitute zurückziehen, und die Wirtschaftsbeziehungen mit dem ukrainischen Festland werden gekappt.

Russische Polizeiautos aus weit abgelegenen Regionen fahren inzwischen auf den pittoresken Straßen der Halbinsel Streife, doch es ist unklar, unter welchem Rechtssystem dies geschieht. „Das ukrainische Recht gilt hier nicht mehr, aber das russische Recht ist noch nicht in Kraft“, sagt der Rechtsanwalt Sergej Fominich, dessen Verfahren bei Gericht bis zur Klärung der neuen Rechtslage alle ausgesetzt sind. In der Hauptstadt Simferopol preist eine geschäftstüchtige russische Kanzlei bereits ihre Dienste für Unternehmen an, die ihr Angebot an die Gegebenheiten in Russland anpassen möchten.

Auch die Bevölkerung stellt sich auf die neue Wirklichkeit ein, wie Rudenko bemerkt. Ihre Schule ist die größte von insgesamt nur sechs Lehranstalten auf der überwiegend russisch-sprachigen Krim, die ihren Unterricht auf Ukrainisch abhalten. Natascha Melnitschuk gehört zu den Eltern, die eine Umstellung auf den russischen Lehrplan fordern, weil sie die Zukunft ihrer Kinder eher in Moskau als in Kiew sehen. „Wir hatten keine Wahl, aber jetzt ist die Lage wie sie ist“, sagt die 39-jährige Mutter zweier Jungen, die eigentlich gegen die Abspaltung der Krim von der Ukraine war. „Es wäre sinnlos, wenn die Jungs weiter auf Ukrainisch lernen, obwohl sie später in Russland die Universität besuchen werden.“


Angliederung der Krim wird teuer für Russland

Nicht nur die Bürokratie, auch die komplette Gesetzgebung auf der Krim wird umgekrempelt. Vor einer Woche beschlossen die Abgeordneten der Regionalversammlung eine neue Verfassung. Es war nur das erste von Hunderten Gesetzen, die dieses Jahr verabschiedet werden sollen, wie Parlamentspräsident Wladimir Konstantinow bereits ankündigte. „Es sind nur 43 Tage vergangen, aber die Krim ist bereits in eine neue Phase ihrer Geschichte gestartet“, sagte er vor den Abgeordneten, von denen einige erst zwei Tage zuvor ihre russischen Pässe erhalten hatten.

Russland lässt sich die Angliederung der Krim einiges kosten. Sieben Milliarden Dollar hat die Führung in Moskau allein dieses Jahr für Investitionen dort vorgesehen. Weitere Milliarden sollen für eine Erhöhung der Renten und den Bau einer Brücke zwischen der Halbinsel und dem russischen Festland fließen. „Mit den hohen Investitionen, die wir erwarten, wird unsere Wirtschaft autark werden“, sagt der erste stellvertretende Ministerpräsident der Krim, Rustam Temirgalijew, im Gespräch mit Reuters. „Wir wollen nicht auf Dauer wirtschaftlich abhängig sein.“

In Simferopol gibt es um die 15 Hotels. Derzeit drängen sich in ihnen vor allem Männer in glänzenden Anzügen. Es sind russische Beamte, russische Investoren auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten und verunsicherte Geschäftsleute aus allen Teilen der Halbinsel, die die neuen Herrscher der Krim umgarnen. Grundsätzlich gehen die meisten Bewohner der Krim zwar davon aus, dass es ihnen unter russischer Herrschaft bessergehen wird als in der Vergangenheit. Einige Unternehmen haben die politischen Tumulte allerdings schwer getroffen.

„Was für ein Geschäft? Das Geschäft stirbt“, schnaubt der Direktor eines Weinbaubetriebes in den Hügeln an der Küste. Seinen Namen will er nicht gedruckt lesen, weil die Firma kürzlich verstaatlicht wurde. „Jeden Tag ändern sich die Regeln. Es ist unmöglich“, klagt er. Auch bei der Werft Zaliw, einem der größten privaten Arbeitgeber und Steuerzahler der Region, ist die Produktion zum Erliegen gekommen. Die Kunden in Norwegen und den Niederlanden haben die Verhandlungen über neue Aufträge im Herbst wegen der damaligen Massenproteste in Kiew abgebrochen. „Wir sind zu hundert Prozent vom Export abhängig. Wir wissen nicht, wie es jetzt weitergehen soll“, sagt die Firmensprecherin Marina Romanika.

Die Unternehmen auf der Krim fürchten, dass sie plötzlich von ihren angestammten Märkten und den Zulieferungen vom ukrainischen Festland abgeschnitten werden könnten. Nun bemühen sie sich hastig, für einen solchen Fall die Konsequenzen für ihr Geschäft zu mildern. Momentan passieren Wirtschaftsgüter zwar noch die Landbrücke zwischen der Krim und dem ukrainischen Festland – ebenso wie Wasser-, Gas- und Stromlieferungen, von denen die Krim abhängig ist. Die Unternehmensbesitzer gehen aber nicht davon aus, dass dies anhält.


Unternehmen müssen umplanen

„Wir müssen unsere ganze Logistik umschmeißen“, sagt Alexander Batalin. Er ist Chef des Unternehmens Phiolent, das 90 Prozent aller Elektrowerkzeuge in der Ukraine baut. „Die Reaktion der Ukraine ist nicht vorherzusagen – wir müssen künftig alles durch Russland leiten.“ Mit ihren 1800 Angestellten und 28 Millionen Dollar Umsatz ist die Firma in Simferopol eine wichtige Stütze der heimischen Wirtschaft. Doch ihre Zukunft ist ungewiss. Bisher sei unklar, wer die über 50 Prozent der Anteile übernehmen werde, die sich im Besitz des ukrainischen Staates befänden, sagt Batalin.

Andererseits erwartet er wie viele andere Geschäftsleute, die für Russland sind, einen besseren Zugang zu den Märkten dort und russische Investitionen, die Umsatzeinbußen in der Ukraine wettmachen dürften. Dorthin gehen bisher 35 Prozent der Lieferungen von Phiolent. „Dank des patriotischen Erwachens in Russland, wo die Menschen der Krim helfen wollen, eröffnen sich uns Absatzmärkte, die uns bisher verschlossen blieben“, hofft Batalin.

Im Russland der Zaren und später in der Sowjetunion war die Krim ein luxuriöses Reiseziel. Mit der Angliederung an Russland hoffen nun viele Bewohner der Halbinsel, dass die neuen Herren die Wirtschaft wieder in Schwung und die heruntergekommenen Urlaubsorte wieder in Schuss bringen werden. „Die Größe und die wirtschaftliche Stärke Russlands und der Ukraine sind nicht zu vergleichen“, erklärt Juri Malischtschew. Der 49-Jährige arbeitet in einem Ferienlager für Kinder in Artek, das mittlerweile verstaatlicht wurde. „Ich verdiene 2000 Hriwnja (160 Dollar) im Monat, jetzt hoffe ich auf eine Vervierfachung meines Lohns“, sagt er.

Zu Hochzeiten war das Camp an der Küste so modern, dass sowjetische Science-Fiction-Filme dort gedreht wurden. Inzwischen ist alles marode. Aus den Rissen eines riesigen, längst trocken gelegten Schwimmbeckens wächst Gestrüpp, Graffiti bedecken eine Lenin-Statue mit Blick auf romantische Zypressen-Reihen. Seit dem Beginn der politischen Unruhen vor vier Monaten sind keine Kinder mehr nach Artek gekommen. Allein in den vergangenen zwei Monaten liefen Lohn-Rückstände von einer halben Million Dollar für die 1700 Beschäftigten auf.

Trotz der Hoffnung auf mehr Wohlstand unter russischer Herrschaft fällt es vielen Bewohnern der Krim schwer, sich zwischen einer Zukunft auf der Halbinsel oder auf dem ukrainischen Festland zu entscheiden. „Die vergangenen Monate waren purer Stress für mich“, sagt Anja Wosnaja, die an einer Außenstelle der Universität Kiew in Artek Pädagogik studiert. Eigentlich stammt sie aus der Stadt Chmelnitzki im Herzen der Ukraine, doch ihr Vater wurde vor vier Jahren auf die Krim versetzt. Inzwischen ist der Offizier der ukrainischen Armee im Ruhestand. „Meine Eltern bekommen russische Pässe, und ich wahrscheinlich auch“, sagt die 21-Jährige. „Aber es ist eine schwierige Entscheidung – wegzugehen oder zu bleiben.“

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