Liberalismus Die Idee der Freiheit

Seite 3/6

Die Pluralität der Meinung, die mit der Ausbildung individueller Freiheiten einhergeht, scheint ihm der rechte Impfstoff zu sein gegen den dogmatischen Rationalismus vieler Aufklärer. Ohne Vielfalt, Fülle und Farbigkeit der Gedanken, Urteile und Tätigkeiten, so Kant im Vierten Satz seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, (1784) „würden in einem arkadischen Schäferleben, bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben“ – und „die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden...ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat“.

Die Französische Revolution lehrt die liberalen Aufklärer fünf Jahre später, dass die Freunde der Vielfalt im Arkadien der Gleichheit Gefahr laufen, so lange guillotiniert zu werden, bis auch sie sich zu Schafen erklären. Der jakobinische Terror schockiert die Liberalen. Fassungslos verfolgen sie, wie die Verheißung der Freiheit sich in eine „Tyrannei der Mehrheit“ (Alexis de Tocqueville) verwandelt – und wie ihre Gleichheitsidee einer Herrschaftsclique den Vorwand liefert, im Namen aller despotisch zu sein.

Schutz von Minderheiten

In der Folge schärft der Liberalismus nicht nur seine traditionellen Positionen; er gewinnt auch dezidiert politische und kulturkritische Züge. Der Zweifel, dass das Volk es nicht nötig habe, seine Macht über sich selbst zu beschränken, hat sich erhärtet. Die heroische Abwehr von Uniformität, Zentralsteuerung und Majoritätsmacht steht künftig im Zentrum liberaler Überlegungen. Die vorrangige Aufgabe von Staat und Regierung bestehe nicht darin, den Mehrheitswillen durchzusetzen und die „Stimme des Volkes“ institutionell zu verkörpern, sondern ganz im Gegenteil: im Erhalt der Meinungsvielfalt, im Schutz von Minderheiten. Schließlich in der Stärkung von Familien, Vereinen, föderalen Strukturen und kleinen Einheiten.

Unter dem Eindruck der heraufziehenden Massendemokratie und aus Angst vor dem Diktat des „vorherrschenden Meinens und Empfindens“ (John Stuart Mill), in der entschiedenen Abwehr jeder noch so gut gemeinten staatlichen Vormundschaft und zum Schutz der individuellen Freiräume wird im 19. Jahrhundert das klassische Repertoire des Liberalismus ergänzt: Neben unveräußerliche Menschenrechte, individuelle Freiheit, Eigentum und Rechtssicherheit treten pädagogische Inhalte, republikanische Elemente und ein Set von Bürgertugenden.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%