Liberalismus Die Idee der Freiheit

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Dahinter steht die Befürchtung, dass der „Mangel an Reife zur Freiheit“ mit einem „Mangel intellektueller und moralischer Kräfte“ (Wilhelm von Humboldt) korrespondiert – und dass „die allgemeine Tendenz in der ganzen Welt … dahin“ geht, die „Mittelmäßigkeit zur überlegenen Macht unter den Menschen zu machen“ (Mill). Theoretisch bleiben die Liberalen felsenfest: Der demokratische Wille ist und bleibt eine Summe pluraler Ansprüche und persönlicher Interessen – und die Freiheit an sich ein Wert, der keiner positiven Bestimmung bedarf. Als gute Soziologen aber erkennen sie zugleich, dass die Willensbildung sich in einer modernen Demokratie in einem anonymen, „gesellschaftlichen“ Prozess vollzieht – und rufen zur Befestigung der Freiheit die Bildung, die Religion (Humboldt), das vorbildhafte Beispiel (Mill) und das Subsidiaritätsprinzip (Alexis de Tocqueville) zu Hilfe.

Wilhelm von Humboldt gibt in seinem „Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ (1792) den Ton vor: „Je mehr… der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte“, so seine Warnung – „allein was der Mensch beabsichtet und beabsichten muss, ist ganz etwas andres, es ist Mannigfaltigkeit und Tätigkeit“. Humboldt fürchtet, dass seine Zeitgenossen sich von dem Gedanken erhoben fühlen, „Glieder eines Ganzen zu sein“ – bereit, sich entwürdigen zu lassen als des Staates „Haufe ernährter Sklaven“. Mit viel Pathos erinnert er an den „wahren Zweck“ des Menschen: „die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte“ – und daran, dass dazu „Freiheit die erste und unerlässlichste Bedingung“ sei.

Starke, eigensinnige Bürger

Kein Zweifel: Humboldts Staat ist ein Staat unabhängiger und – im besten Sinne – eigensinniger Bürger. „Kraftvolle Charaktere“, die sich aus freien Stücken zu einem Sozialgewebe verbinden, haben naturgemäß ein Interesse an einem Staat, der „sich aller Sorgfalt für (ihren) positiven Wohlstand“ enthält. Bildung, Sittlichkeit und Freiheit stellen für den preußischen Reformer eine Art heilige Dreifaltigkeit wider die Gleichheitsgefahr dar.

Zumindest theoretisch. Denn praktisch sieht John Stuart Mill die Sache der Freiheit schon 1859 so gut wie verloren. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung, die „Verbesserungen der Verkehrsmittel“ und die „Zunahme von Handel und Gewerbe“, haben das Problem der massendemokratischen Gleichheit noch einmal verschärft: „Früher lebten verschiedene Ränge, Nachbarschaften, Gewerbe und Berufe in, man kann sagen, verschiedenen Welten. [Heute] lesen, hören, sehen [alle] dieselben Dinge, gehen an dieselben Orte, richten Hoffnungen und Befürchtungen auf dieselbe Sache.“

Es ist offensichtlich, dass Mill die Wucht seiner Kulturkritik als Kontrastfolie dient, um seinen (beinah’) verlorenen Helden, die Freiheit, (noch einmal) umso heller erstrahlen zu lassen: „Energische Charaktere mit großem Format gehören schon jetzt bloß noch in den Bereich der Sage“, so Mill; stattdessen sei es heute „das Ideal des Charakters, ohne markanten Charakter zu sein“. Angesichts einer Masse, die ihr Denken frei Haus geliefert bekomme „von Leuten, die ihr sehr gleichen“, sei schon „die bloße Weigerung“, vor der öffentlichen Meinung „in die Knie zu sinken, an sich ein Verdienst“.

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