Liberalismus Die Idee der Freiheit

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Der Kampf zwischen Freiheit und Autorität, den Mill zur „Lebensfrage der Zukunft“ stilisiert, stehe auf des Messers Schneide: Es sei an den „Starken“, „Vitalen“ und „Wenigen“, den vielen Matten ein „Beispiel zu geben für aufgeklärte Lebensführung, besseren Geschmack und Sinn im Menschenleben“ – und es sei an der Regierung, einzusehen, dass „der Wert eines Staates“, dem „Wert der Individuen entspricht, die ihn bilden“. Eile sei geboten: „Wenn der Widerstand wartet, bis das Leben nahezu auf einen gleichförmigen Typus gebracht ist, dann wird man alle Abweichungen von diesem Typ als gottlos, unmoralisch, ja sogar monströs und widernatürlich ansehen.“

Es sollte uns hoffnungsfroh stimmen, dass die Liberalen die Gleichheit seither unaufhaltsam auf dem Vormarsch wähnen – und dass die Freiheit dennoch nicht totzukriegen ist. Vielleicht liegt die Krise des Liberalismus ja darin begründet, dass er uns seit anderthalb Jahrhunderten nichts Neues zu sagen hat? Dass uns die Liberalen seit Humboldt und Mill in endlosen Reprisen einen „Mangel an Reife zur Freiheit“ attestieren – und uns dem immergleichen Vorwurf aussetzen, wir seien sicherheitsverliebte Herdentiere, die nur darauf warten, sich von einem fürsorglich-paternalistischen Staat auf sattgrüne Weidegründe führen zu lassen? Kann es sein, dass wir dieses ewige Lamento einfach nicht mehr hören können?

Zwiespältige Freiheit

Tatsache ist, dass die Sache der Freiheit in den westlichen Wohlfahrtsstaaten weder gewonnen hat noch verloren ist. Allein ihre Zwiespältigkeit hat stetig zugenommen.

Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und das wirtschaftliche Wachstum haben ihr einerseits ein schier unendliches Spielfeld eröffnet: „Nie zuvor hatten so viele Menschen so große Lebenschancen wie heute“ (Ralf Dahrendorf) – doch nie zuvor wurden wir zugleich von so vielen anonymisierten Prozessen, systemischen Logiken, unternehmerischen Zwängen und politischen Alternativlosigkeiten bedrängt. Nie zuvor war so viel Weltwissen gesammelt, vernetzt und verbreitet – und nie zuvor die Bereitschaft größer zu normierter Bildung und beruflicher Funktionalität, zu konformistischem Medienkonsum und trivialer Freizeitverbringung.

Nie zuvor war unsere Gesellschaft so individualisiert, so eingesponnen ins Private, so tolerant und breit aufgefächert in Berufe, Hobbys, Vorlieben – und nie zuvor ist der Gesellschaftskörper zugleich so gegenwartspolitisch korrekt im Wind der herrschenden Meinung gesegelt, mitgerissen von den Strömungen der Zeit: von der Umverteilungs- und Wohlfahrtswut der sozialen Gerechtigkeitskämpfer (ab 1970er-Jahre) über den Deregulierungsfuror und Steuersenkungskannibalismus der Trivialliberalen (ab 1990er-Jahre) bis hin zum heutigen Ökocalvinismus grüner Global-Moralisten.

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