Merkel trifft Erdogan Deutsch-türkische Beziehungen auf dem Tiefpunkt

Seit vielen Jahren waren die türkisch-deutschen Beziehungen nicht so schlecht wie heute. Dabei sind die unzähligen persönlichen Verbindungen zwischen beiden Ländern ein großes Kapital.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan beim UN-Nothilfegipfel im Mai 2016 in Istanbul. Quelle: dpa

Istanbuls Stadtteil Göztepe liegt auf der asiatischen Seite des Bosporus. Aber orientalisch sieht die Stadt dort nicht aus, sondern wie eine moderne Metropole. Eine achtspurige Autobahn führt zum Sabiha Gökcen Flughafen. Hier im 19. Stock des Nida-Towers hat Iyzico seinen Hauptsitz.

Das 2013 gegründete Unternehmen ist ein klassisches Start-up: Offene Räume, flache Hierarchien, Chefs und Mitarbeiter sitzen am selben Tisch. Wer sich entspannen will, spielt am Kicker-Tisch um die Ecke. Der Altersschnitt liegt bei knapp 30 Jahren.
"Viele unserer 80 Mitarbeiter schätzen die offene Atmosphäre", sagt Barbaros Özbugutu, Mitgründer und CEO von Iyzico. "Türkische Unternehmen sind oft sehr hierarchisch. Bei uns kann aufsteigen, wer gut arbeitet."

Iyzico bietet Payment-Lösungen für Unternehmen an, die online Waren verkaufen. Zu den Kunden gehören internationale Firmen wie Zara, Nike und Decathlon wie auch die türkischen Internet-Riesen Sahibinden oder Ciceksepeti. Im vergangenen Jahr lag das Transaktionsvolumen bei 1,5 Milliarden türkische Lira.

Özbugutu wuchs in Nürnberg auf, entschloss sich aber, sein Unternehmen in Istanbul zu gründen. 2013 schien Istanbul vielversprechender, weil dynamischer als Deutschland. Die Bevölkerung ist jung und gut ausgebildet, die Löhne vergleichsweise niedrig.

2005 bis 2013 - das waren so etwas wie die goldenen Jahre - für die Türkei, aber auch für die deutsch-türkischen Beziehungen.

Wenn Angela Merkel am Donnerstag auf den türkischen Präsidenten Erdogan trifft, geht es bestenfalls um Schadensbegrenzung. Aktueller Streitpunkt sind die türkischen NATO-Soldaten, die in Deutschland Asyl beantragen. Laut Ankara könnte es sich um Verschwörer halten, und fordert deswegen von Merkel, die Anträge abzulehnen, und die Soldaten auszuliefern. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern fallen von Tiefpunkt zu Tiefpunkt. Ein kurzer Rückblick:

Visumfreiheit: Was die EU von der Türkei verlangt

Ein erster Wendepunkt waren die Gezi-Proteste 2013, gegen die die Regierung mit brutaler Polizeigewalt vorging. Es hagelte Kritik aus dem Ausland, Erdogan wiederum sah sich in seiner Meinung bestätigt, die Türkei sei von Feinden umzingelt.

2015 flammte der Kurdenkonflikt wieder auf, was zu weiteren Verwerfungen führte. Der Flüchtlingsdeal, den Angela Merkel zusammen mit der Türkei im Frühjahr 2016 schloss, gilt vielen als Erfolg, sorgte aber auch für Kritik in beiden Ländern. Während in Deutschland Gegner das Abkommen kritisieren, weil man sich von einem "Despoten abhängig" mache, wirft man in der Türkei der EU vor, sich nicht an Abmachungen zu halten: die versprochene Visa-Freiheit sei nicht gekommen, das versprochene Geld nur teilweise ausgezahlt.

Die Beziehungen verschlechterten sich abermals, nachdem am 15. Juli 2016 Teile des Militärs zu putschen versuchten. Selbst von Erdogan-Kritikern wurde es Affront empfunden, dass in den Wochen nach dem vereitelten Coup kein europäischer Politiker das Land besuchte, um Solidarität zu bekunden. In der EU und insbesondere in Deutschland dagegen ist man geschockt, mit welcher Härte die Regierung in den letzten Monaten gegen vermeintliche Gülen-Anhänger vorgegangen ist.

Terroranschläge haben Türkei wirtschaftlichen Schaden zugefügt

Der nächste Punkt, bei dem die Wahrnehmungen diametral auseinander liegen, ist das im Frühjahr stattfindende Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems. Während Erdogan und seine Anhänger das neue System als Ausdruck des Volkswillen betrachten, das das Land regierbarer und reformfähiger machen sollen, sehen Kritiker im Ausland wie in der Türkei es als Sargnagel der türkischen Demokratie. Manche Investoren hoffen zumindest, dass mit der Einführung des Präsidialsystems Ruhe einkehrt, und mit der Unsicherheit auch die Polarisierung der türkischen Gesellschaft wieder abnimmt.

Ein EU-Beitritt des Landes aber ist in weite Ferne gerückt. Zwar laufen die Beitrittsverhandlungen offiziell weiter. Doch von den 33 Kapiteln ist gerade einmal eines (Wissenschaft und Forschung) abgeschlossen, 15 wurden noch nicht einmal eröffnet. Problematisch ist dabei auch, dass die EU-Euphorie der Türken rapide abgenommen hatten. Waren 2004 noch eine Mehrheit der Türken für einen EU-Beitritt, sind heute 70 Prozent dagegen. Auch Oppositionelle fühlen sich von der EU hingehalten, oder als mehrheitlich moslemisches Land ungewollt.

Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis

Daran wird Angela Merkel nichts ändern: Sie war es, die 2004 den - schön klingenden, aber nichtssagenden - Begriff der "privilegierten Partnerschaft" prägte. Mit dem Brexit haben die Türken auch innerhalb der EU ihren wichtigsten Fürsprecher Großbritannien verloren.

Und wirtschaftlich? Die Terroranschläge im vergangenen Jahr und das rigide Vorgehen der türkischen Regierung gegen vermeintliche Gülen-Anhänger haben tiefe Spuren hinterlassen. Deutsche Unternehmen berichten von massiven Schwierigkeiten, überhaupt noch Expats rekrutieren zu können. Zwar halten Großkonzerne zumeist an ihren geplanten Investitionen fest. Kleinere Mittelständler aber scheuen die Türkei aufgrund der politischen Lage. Die Lira hat in den letzten Monaten 30 Prozent ihres Werts verloren.

Natürlich spürt Iyzico auch die aktuellen politischen Ereignisse, auch wenn sich diese eher positiv auf das Geschäft auswirken. „Menschen scheuen sich aktuell vor großen Investitionen in Immobilien oder Autos, geben eher Geld für Kleidung oder Elektronik aus", sagt Gründer Özbugutu. "Aber das ist nicht unbedingt schlecht für uns: Es bleiben auch mehr Leute daheim und kaufen online ein."

Chronologie: Schwere Anschläge in der Türkei

Tatsächlich ist die Zahl der deutschen Unternehmen in der Türkei sogar gestiegen und hat mit über 6800 einen neuen Höchststand erreicht. Für die Türkei ist und bleibt Deutschland der wichtigste Handelspartner. Das Volumen lag 2015 bei 36 Milliarden Euro. Dieses Jahr sollen Verhandlungen mit der EU über eine Vertiefung der Zollunion beginnen. Die dürfte den Warenaustausch nochmals erhöhen. Hinzu kommt das Humankapital.

Drei Millionen türkisch-stämmige Menschen leben in Deutschland. Sie oder ihre Eltern und Großeltern kamen ab den Sechzigern als Gastarbeiter. In den Nuller Jahren gingen manche der Kinder und Enkelkinder wieder ins Land ihrer Vorfahren, weil sie wegen der Dynamik der Türkei bessere Chancen für sich sahen. Die Chancen mögen sich in den letzten Jahren verschlechtert haben - die Verbindungen zwischen den beiden Ländern aber bleiben bestehen.

In den nächsten Jahren will Iyzico expandieren - in Märkte wie Bulgarien oder Griechenland, aber auch in Westeuropa. Gerade erst ist ein deutscher Freund von Özbugutu eingestiegen, der von München aus Expansionspläne koordiniert.

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