Istanbuls Stadtteil Göztepe liegt auf der asiatischen Seite des Bosporus. Aber orientalisch sieht die Stadt dort nicht aus, sondern wie eine moderne Metropole. Eine achtspurige Autobahn führt zum Sabiha Gökcen Flughafen. Hier im 19. Stock des Nida-Towers hat Iyzico seinen Hauptsitz.
Das 2013 gegründete Unternehmen ist ein klassisches Start-up: Offene Räume, flache Hierarchien, Chefs und Mitarbeiter sitzen am selben Tisch. Wer sich entspannen will, spielt am Kicker-Tisch um die Ecke. Der Altersschnitt liegt bei knapp 30 Jahren.
"Viele unserer 80 Mitarbeiter schätzen die offene Atmosphäre", sagt Barbaros Özbugutu, Mitgründer und CEO von Iyzico. "Türkische Unternehmen sind oft sehr hierarchisch. Bei uns kann aufsteigen, wer gut arbeitet."
Iyzico bietet Payment-Lösungen für Unternehmen an, die online Waren verkaufen. Zu den Kunden gehören internationale Firmen wie Zara, Nike und Decathlon wie auch die türkischen Internet-Riesen Sahibinden oder Ciceksepeti. Im vergangenen Jahr lag das Transaktionsvolumen bei 1,5 Milliarden türkische Lira.
Özbugutu wuchs in Nürnberg auf, entschloss sich aber, sein Unternehmen in Istanbul zu gründen. 2013 schien Istanbul vielversprechender, weil dynamischer als Deutschland. Die Bevölkerung ist jung und gut ausgebildet, die Löhne vergleichsweise niedrig.
2005 bis 2013 - das waren so etwas wie die goldenen Jahre - für die Türkei, aber auch für die deutsch-türkischen Beziehungen.
Wenn Angela Merkel am Donnerstag auf den türkischen Präsidenten Erdogan trifft, geht es bestenfalls um Schadensbegrenzung. Aktueller Streitpunkt sind die türkischen NATO-Soldaten, die in Deutschland Asyl beantragen. Laut Ankara könnte es sich um Verschwörer halten, und fordert deswegen von Merkel, die Anträge abzulehnen, und die Soldaten auszuliefern. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern fallen von Tiefpunkt zu Tiefpunkt. Ein kurzer Rückblick:
Visumfreiheit: Was die EU von der Türkei verlangt
Dürfen türkische Staatsbürger irgendwann ohne Visum nach Europa reisen oder nicht? Die Antwort auf diese Frage kann nach Auffassung der EU-Kommission nur die Regierung in Ankara geben. Die Brüsseler Behörde sah in ihrem jüngsten offiziellen Bericht noch 5 der 72 Vorgaben für eine Visaliberalisierung als nicht erfüllt an.
In der Türkei wurde am 30. April eine neue Strategie dazu beschlossen. Im jüngsten Bericht stellten Experten der EU-Kommission allerdings fest, dass noch mehr getan werden müsse, um Korruption unter Parlamentariern, Richtern und Staatsanwälten zu verhindern. Dabei geht es unter anderem um Vorgaben zur Parteienfinanzierung und zur Unabhängigkeit der Justiz. Die EU weist dabei auf ein Gutachten der „Staatengruppe gegen Korruption“ (Greco) hin.
Laut der Darstellung im Fortschrittsbericht hatten die türkische Behörden bis zuletzt lediglich die Absicht erklärt, künftig enger mit den Behörden in EU-Staaten zusammenzuarbeiten, um die in der Türkei geltenden Rechtsvorschriften und Verfahren zu erklären. 2014 und 2015 wurden türkischen Statistiken zufolge 49 Auslieferungsanträge aus EU-Ländern gestellt, ein Großteil davon wurde noch nicht abschließend bearbeitet. Nur sechs Anträge wurden genehmigt.
Bei der jüngsten offiziellen Bestandsaufnahme lag der EU lediglich ein Absichtsbekundung der Türkei vor.
Ein im Frühjahr beschlossenes Gesetz entspricht nach Auffassung der EU-Kommission nicht den Anforderungen. Es sei nicht sichergestellt, dass die Datenschutzbehörde unabhängig handeln könne, lautete die Kritik. Es wurde gefordert, dass die neuen Datenschutzregeln auch für Strafverfolgungsbehörden gelten müssen.
Dies ist der umstrittenste Punkt. Die EU verlangt von der Türkei den geltenden Rechtsrahmen und die Standards zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus zu überarbeiten. So soll unter anderem die Definition von Terrorismus enger gefasst werden, um auszuschließen, dass auch missliebige Journalisten oder politische Gegner verfolgt werden können. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat jedoch zuletzt deutlich gemacht, dass er im Gegenzug ein härteres Vorgehen gegen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK in Europa erwartet.
Ein erster Wendepunkt waren die Gezi-Proteste 2013, gegen die die Regierung mit brutaler Polizeigewalt vorging. Es hagelte Kritik aus dem Ausland, Erdogan wiederum sah sich in seiner Meinung bestätigt, die Türkei sei von Feinden umzingelt.
2015 flammte der Kurdenkonflikt wieder auf, was zu weiteren Verwerfungen führte. Der Flüchtlingsdeal, den Angela Merkel zusammen mit der Türkei im Frühjahr 2016 schloss, gilt vielen als Erfolg, sorgte aber auch für Kritik in beiden Ländern. Während in Deutschland Gegner das Abkommen kritisieren, weil man sich von einem "Despoten abhängig" mache, wirft man in der Türkei der EU vor, sich nicht an Abmachungen zu halten: die versprochene Visa-Freiheit sei nicht gekommen, das versprochene Geld nur teilweise ausgezahlt.
Die Beziehungen verschlechterten sich abermals, nachdem am 15. Juli 2016 Teile des Militärs zu putschen versuchten. Selbst von Erdogan-Kritikern wurde es Affront empfunden, dass in den Wochen nach dem vereitelten Coup kein europäischer Politiker das Land besuchte, um Solidarität zu bekunden. In der EU und insbesondere in Deutschland dagegen ist man geschockt, mit welcher Härte die Regierung in den letzten Monaten gegen vermeintliche Gülen-Anhänger vorgegangen ist.
Terroranschläge haben Türkei wirtschaftlichen Schaden zugefügt
Der nächste Punkt, bei dem die Wahrnehmungen diametral auseinander liegen, ist das im Frühjahr stattfindende Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems. Während Erdogan und seine Anhänger das neue System als Ausdruck des Volkswillen betrachten, das das Land regierbarer und reformfähiger machen sollen, sehen Kritiker im Ausland wie in der Türkei es als Sargnagel der türkischen Demokratie. Manche Investoren hoffen zumindest, dass mit der Einführung des Präsidialsystems Ruhe einkehrt, und mit der Unsicherheit auch die Polarisierung der türkischen Gesellschaft wieder abnimmt.
Ein EU-Beitritt des Landes aber ist in weite Ferne gerückt. Zwar laufen die Beitrittsverhandlungen offiziell weiter. Doch von den 33 Kapiteln ist gerade einmal eines (Wissenschaft und Forschung) abgeschlossen, 15 wurden noch nicht einmal eröffnet. Problematisch ist dabei auch, dass die EU-Euphorie der Türken rapide abgenommen hatten. Waren 2004 noch eine Mehrheit der Türken für einen EU-Beitritt, sind heute 70 Prozent dagegen. Auch Oppositionelle fühlen sich von der EU hingehalten, oder als mehrheitlich moslemisches Land ungewollt.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
Daran wird Angela Merkel nichts ändern: Sie war es, die 2004 den - schön klingenden, aber nichtssagenden - Begriff der "privilegierten Partnerschaft" prägte. Mit dem Brexit haben die Türken auch innerhalb der EU ihren wichtigsten Fürsprecher Großbritannien verloren.
Und wirtschaftlich? Die Terroranschläge im vergangenen Jahr und das rigide Vorgehen der türkischen Regierung gegen vermeintliche Gülen-Anhänger haben tiefe Spuren hinterlassen. Deutsche Unternehmen berichten von massiven Schwierigkeiten, überhaupt noch Expats rekrutieren zu können. Zwar halten Großkonzerne zumeist an ihren geplanten Investitionen fest. Kleinere Mittelständler aber scheuen die Türkei aufgrund der politischen Lage. Die Lira hat in den letzten Monaten 30 Prozent ihres Werts verloren.
Natürlich spürt Iyzico auch die aktuellen politischen Ereignisse, auch wenn sich diese eher positiv auf das Geschäft auswirken. „Menschen scheuen sich aktuell vor großen Investitionen in Immobilien oder Autos, geben eher Geld für Kleidung oder Elektronik aus", sagt Gründer Özbugutu. "Aber das ist nicht unbedingt schlecht für uns: Es bleiben auch mehr Leute daheim und kaufen online ein."
Chronologie: Schwere Anschläge in der Türkei
Bei einem Doppelanschlag im Istanbuler Stadtteil Besiktas nahe einem Fußballstadion sterben am 10. Dezember mindestens 45 Menschen, überwiegend Polizisten. Zu den Anschlägen bekennt sich die TAK, eine Splittergruppe der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Eine Woche später kommen in der zentraltürkischen Stadt Kayseri bei einem Selbstmordanschlag mindestens 13 Soldaten ums Leben. Der Attentäter hat eine Autobombe neben einem Bus mit Militärangehörigen gezündet haben. Auch hierzu bekennt sich die TAK. Am 19. Dezember wird der russische Botschafter Andrej Karlow in Ankara von einem türkischen Polizisten niedergeschossen. Die türkische Regierung verdächtigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Attentat zu stecken.
Bei einem Autobombenanschlag in der südosttürkischen Kurdenmetropole Diyarbakir werden mindestens elf Menschen getötet, die meisten davon Zivilisten. Erstmals übernimmt die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Verantwortung. Auch die TAK bekennt sich zu der Tat. Zu der Explosion war es kurz nach den Festnahmen von zwölf Abgeordneten der pro-kurdischen HDP gekommen.
In der südosttürkischen Provinz Hakkari bringt ein Attentäter einen mit Sprengstoff beladenen Kleinlaster vor einem Kontrollposten der Gendarmerie zur Explosion. Bei dem Selbstmordanschlag der PKK kommen 16 Menschen ums Leben.
Ein Attentäter sprengt sich inmitten einer kurdischen Hochzeitsfeier in der südtürkischen Stadt Gaziantep in die Luft. Es gibt mehr als 50 Tote.
Am internationalen Terminal des Atatürk-Flughafens in Istanbul sprengen sich drei Selbstmordattentäter in die Luft. Sie reißen 45 Menschen mit in den Tod. Die türkische Regierung macht den IS dafür verantwortlich.
Bei einem Autobombenanschlag in der Hauptstadt Ankara werden mindestens 37 Menschen getötet. Zu dem Anschlag bekennt sich die TAK.
Bei einem Bombenanschlag auf einen Militärkonvoi im Regierungsviertel von Ankara sterben 30 Menschen, darunter der Selbstmordattentäter. Zu dem Attentat bekennt sich die TAK.
Bei einem Anschlag im historischen Zentrum Istanbuls werden zwölf Deutsche getötet. Der Angreifer sprengt sich mitten in einer deutschen Reisegruppe in die Luft. Er gehörte nach Angaben der türkische Regierung dem IS an.
Am Rande einer regierungskritischen Demonstration in der Hauptstadt Ankara reißen zwei Sprengsätze mehr als 100 Menschen in den Tod. Die Staatsanwaltschaft macht den IS dafür verantwortlich.
Tatsächlich ist die Zahl der deutschen Unternehmen in der Türkei sogar gestiegen und hat mit über 6800 einen neuen Höchststand erreicht. Für die Türkei ist und bleibt Deutschland der wichtigste Handelspartner. Das Volumen lag 2015 bei 36 Milliarden Euro. Dieses Jahr sollen Verhandlungen mit der EU über eine Vertiefung der Zollunion beginnen. Die dürfte den Warenaustausch nochmals erhöhen. Hinzu kommt das Humankapital.
Drei Millionen türkisch-stämmige Menschen leben in Deutschland. Sie oder ihre Eltern und Großeltern kamen ab den Sechzigern als Gastarbeiter. In den Nuller Jahren gingen manche der Kinder und Enkelkinder wieder ins Land ihrer Vorfahren, weil sie wegen der Dynamik der Türkei bessere Chancen für sich sahen. Die Chancen mögen sich in den letzten Jahren verschlechtert haben - die Verbindungen zwischen den beiden Ländern aber bleiben bestehen.
In den nächsten Jahren will Iyzico expandieren - in Märkte wie Bulgarien oder Griechenland, aber auch in Westeuropa. Gerade erst ist ein deutscher Freund von Özbugutu eingestiegen, der von München aus Expansionspläne koordiniert.