Mir ist, als wäre es gestern gewesen. Beim Besuch am Firmensitz in Menden im Sauerland drängte mir Ulrich Bettermann eine Karton Schweizer Weißwein auf: „Nehmen Sie, den müssen Sie unbedingt probieren“. Ich willigte ein, um ihn bei Stimmung zu halten. Ein paar Tage später rief er bei mir zu Hause an und lud meine Frau und mich zu einem Wochenendtrip nach Budapest ein, mit seinem Privatjet, versteht sich. Wir lehnten freundlich und dankend ab, mein Sohn war nur wenige Monate alt. In seinem Haus in der Schweiz, der "Casa bianca" am Vierwaldstätter See, musste ich wenig später dagegen wieder nachgeben. Bettermanns Frau, in Leoparden-Shorts im Türrahmen, reichte mir kurze Hosen ihres Gatten, die ich doch bitte anziehen möchte, um von seinem Domizil mit dem Motorboot zum Mittagessen in einem entlegenen Restaurant zu brettern. Ich streifte sie über. Bettermann beichtete mir wenig später seine Enttäuschung. Das seine Frau uns nicht begleitete, ließ mich meine Blicke in die Berge bohren.
Alles für den Ruhm
Das war vor rund 20 Jahren. Natürlich gab es Streit, als Bettermann schließlich das Porträt über sich in der WirtschaftsWoche las. Er warf mir vor, den Wein angenommen zu haben. Selbstverständlich schickte ich die Flaschen zurück. Er scheiterte mit dem Versuch, den Deutschen Presserat zu einer Rüge zu veranlassen, weil das Porträt Bemerkungen über seinen längst verstorbenen Vater widergab, die Bettermann selbst gemacht hatte.
Der Helfer Chodorkowskis ist der Typ erfolgreicher Mittelständler, den es fast zwanghaft nach Ruhm außerhalb seiner Region drängt – und der dazu vor kaum einem Mittel zurückschreckt.
Was hat der Eigentümer der OBO Bettermann GmbH & Co. KG in dem Sauerland-Städtchen Menden nicht alles angestellt, um berühmt zu werden. Schon Ende 1993 ließ er für umgerechnet 270 000 Euro in seinem Unternehmen drei Männer auftreten, die die Welt noch nie als Trio erlebt hatte: Henry Kissinger, Hans-Dietrich Genscher und Michail Gorbatschow. Er lud den einstigen Kanzlerberater Eduard Ackermann zu sich ein, der ihm vor allen Anwesenden schmeichelte: "Sie könnte ich mir gut als Wirtschaftsminister vorstellen." Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte über ihn, er sei nicht nur ein vorbildlicher Unternehmer, "sondern ein guter Mensch in des Wortes traditioneller Bedeutung".
Der ungekrönte Herrscher
Doch das alles hat ihm wenig genützt. Bis zur Beförderung Chodorkowskis am vergangenen Samstag kannte ihn praktisch niemand in Deutschland. Die Bezeichnung OBO, die Bettermann für seine Befestigungstechnik ersann, weil diese sich ohne Bohren anbringen lasse, verharrte im Schatten von Marken wie Würth oder Dübelfischer.
Bettermann, Jahrgang 1946, gilt, obwohl inzwischen auch Schweizer Staatsbürger, noch immer als ungekrönter Herrscher von Menden. Der Stadtteil Hüingsen, der großenteils identisch ist mit Bettermanns Werksgelände, heißt bei den Mendenern "Bettermannhausen". In Menden versuchte er bis zuletzt, die Kommunalpolitik zu bestimmen. So startete und finanzierte er vor gut einem Jahr eine Kampagne, um den sozialdemokratischen Bürgermeister Volker Fleige per Volksentscheid abzusetzen. "Menden hat wirklich Besseres verdient", wetterte Bettermann und ließ an die Wahlberechtigten der 55.000-Einwohner-Stadt einen Abwahlaufruf mit Titel verschicken: "Fleige macht die Fliege!" Doch der Aufrührer scheiterte, weil er nicht genügend Stimmen für den geplanten Putsch zusammenbekam.
Unzufriedener Unternehmer
Chodorkowski wartet auf Familie
Eigentlich könnte Bettermann mit sich und der Welt zufrieden sein. Er mischt vorne mit in einer Branchenführer von einigen wenigen Milliarden Euro im Jahr. Niemand hierzulande produziert insgesamt so viele Schellen, Klips und Klammern, Kabelhalter und Blitzableiter wie Bettermann – zuletzt für 500 Millionen Euro im Jahr. Sein Unternehmen produziert heute mit 3.000 Mitarbeitern in Deutschland, der Schweiz, Ungarn, Italien, Brasilien und Südafrika. Kaum ein Kraftwerk, eine Tiefgarage oder ein Airport kommt ohne seine Kabelkanäle oder Unterputzdosen aus.
Doch Zeit seines Lebens biss den erfolgreichen Unternehmer gleichzeitig die Gewissheit, eigentlich nichts zu besitzen, womit er so richtig groß Staat machen konnte. Was sind schon seine Blechwaren gegen die berühmten Lasermaschinen zur Blechbearbeitung des württembergischen Vorzeigemittelständlers Berthold Leibingers?
Chronologie des Falls Michail Chodorkowski
Michail Chodorkowski, der Chef des Yukos-Ölkonzerns, wird spektakulär bei einer Zwischenlandung seines Privatjets in Nowosibirsk festgenommen. Die Justiz wirft dem Multimilliardär Betrug und Steuerhinterziehung vor. Sein Geschäftspartner Platon Lebedew war bereits im Juli verhaftet worden.
In Moskau beginnt der erste Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew. Die Verteidigung wirft dem Kreml vor, er steuere das Verfahren, weil der Yukos-Chef in Opposition zu Präsident Wladimir Putin gegangen sei.
Chodorkowski und Lebedew werden unter anderem wegen schweren Betrugs und Bildung einer kriminellen Vereinigung zu je neun Jahren Straflager verurteilt. Ein Berufungsgericht reduziert die Strafe im September 2005 auf je acht Jahre.
In Washington verabschiedet der US-Senat unter anderem mit der Stimme des heutigen US-Präsidenten Barack Obama eine Erklärung, in der er den Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew als politisch motiviert kritisiert.
Der Yukos-Konzern wird nach seiner Zerschlagung und dem Verkauf der Teile aus Russlands Handelsregister gelöscht.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht sich bei einem Treffen mit Putin in Moskau für Chodorkowskis Begnadigung aus. Auch andere deutsche Politiker forderten Russland wiederholt zum rechtsstaatlichen Umgang mit den beiden Unternehmern auf.
In Moskau beginnt der zweite Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew. Die Verteidigung nennt die Vorwürfe der Unterschlagung von 218 Millionen Tonnen Erdöl „absurd und unlogisch“.
Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fordern ehemalige Yukos-Eigentümer von Russland 98 Milliarden Dollar Schadensersatz. Sie werfen Moskau unrechtmäßige Zwangsenteignung vor zur eigenen Bereicherung.
Ein Gericht verurteilt Chodorkowski und Lebedew unter Einbeziehung der ersten Strafe zu insgesamt jeweils 14 Jahren Haft. Es folgen Strafnachlässe. Chodorkowski soll nach 10 Jahren und 10 Monaten im August 2014 freikommen, Lebedew schon im Mai.
Der EGMR lehnt Chodorkowskis Klage ab, wonach das erste Verfahren gegen ihn politisch motiviert gewesen sei. Am 25. Juli 2013 bestätigen die Richter das, halten das russische Vorgehen gegen Chodorkowski aber für ungerecht. Weitere Klagen sind anhängig.
Die Lech-Walesa-Stiftung in Warschau zeichnet Chodorkowskis mit dem Freiheitspreis aus. Er ist mit 100.000 US-Dollar (knapp 73.000 Euro) dotiert.
Zum zehnten Jahrestag seiner Inhaftierung fordern Menschenrechtler Chodorkowskis Freilassung.
Russlands Justiz bestätigt erstmals, dass wegen Geldwäsche ein weiteres Verfahren gegen den Kremlgegner geplant ist.
Putin kündigt die Begnadigung von Chodorkowski an. Nur einen Tag später unterzeichnet er ein Dekret zur Begnadigung des mittlerweile 50-Jährigen. Chodorkowski kommt mit sofortiger Wirkung auf freien Fuß.
Der gelernte Bankkaufmann hat nach eigenen Angaben mit Mühe die mittlere Reife geschafft und nie studiert. Er weiß, dass ihm die Bildung und das intellektuelle Kaliber fehlen, um es jemals so weit zu bringen wie Mittelstandikone Leibinger oder der schwäbische Motorsägenfabrikant Hans Peter Stihl, der einst zum Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelskammertages aufgestiegen war. Bettermann leidet darunter und versucht, damit fertig zu werden, indem er - wie der Süchtige nach der Droge - unablässig nach Ersatzbestätigung sucht.
Wo immer er konnte, drängte Bettermann zu Prominenten aus Wirtschaft und Politik. Er nimmt an dem jährlichen Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos teil. Er schwärmt von der Freundschaft mit Ex-Bundesaußenminister Genscher, der er nun die Beförderung von Chodorkowski verdankt. Er freut sich über das "Du" mit Ex-Bundeskanzler Gerhard Schroeder, berichtet vom Zusammentreffen mit dem Dalai Lama und rühmte sich des kurzen Drahts zum einstigen Siemens-Chef Heinrich v. Pierer. Und wenn sich die Gelegenheit bot, legte er dem "berühmten Weltbürger" Kissinger sanft den Arm um die Schulter. Wer Bettermann besucht, sieht ihn auf den immer gleichen Fotos: Bettermann mit Genscher auf der Couch, Bettermann mit Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl auf der Hannover Messe, Bettermann mit dem früheren bayrischen Ministerpräsident Franz Josef Strauss im Cockpit.
Freund und Familienvater
Michail Chodorkowski nach Berlin geflogen
Für Bettermann waren das „bewegende Momente". Da spürte der Sauerländer, "dass auch die große Politik nur von einfachen Menschen gemacht wird". Da philosophierte er: "Alle Qualitäten des menschlichen Lebens spiegeln sich in den blankgetreteten Stufen, die zu politischer Anerkennung führen." Da politisierte er: "Die Inbetriebnahme der neuen Palettenwechselanlage, die ich im Rahmen eines Mendener Forums mit den Herren Kissinger und Genscher mittels eines symbolischen Knopfdrucks vornahm, sollte auf den Wert der politischen Initialzündung für die mittelständische Wirtschaft hinweisen." Und da weinte er sogar: "Als ich mit Genscher, Kissinger und Gorbatschow in Halle zusammensitzen durfte, liefen mir links und rechts die Tränen herunter."
In seiner Rührung zeigt Bettermann, wie ich ihn sowohl in Menden, im Cockpit seines Firmenjets und in seiner Villa in der Schweiz kennenlernte, den weichen Freund und Familienvater. Als ich mit ihm zu seinen Lieben in die Alpen flog, brachte er in der Tragetüte Gurken und Kopfsalat aus dem heimischen Garten mit. Als "einen der bewegendsten Momente", gestand er mir, empfand er die Geburt der zwei seiner vier Kinder, die er selbst abnabeln durfte. Er mag vor allem deutsche Schlager und Unterhaltungsmusik. Seine Gäste am Vierwaldstätter See fährt er manchmal im Motorboot hinaus zum einfachen und gemütlichen Restaurant "Schwyburg", weil es "der Luzerner Schickeria dorthin viel zu weit ist".
Will Bettermann seinen Willen durchsetzen, entwickelt er allerdings "Terrierqualitäten", meint ein langjähriger Duz- und Jagdfreund. Als er Anfang der 1980er Jahre die Gefahr witterte, sein Onkel Hubert und Vetter Fritz könnten ihn im Streit mit dem kranken Vater Ernst um das Unternehmen bringen, fackelte er nicht lange. Gerade Mitte dreißig setzte er die beiden Verwandten nach eigenen Angaben derart unter Druck, dass diese sich ohne ausführliches Gutachten über den Wert der Firma auszahlen ließen - für umgerechnet gut 20 Millionen Euro weniger, als Bettermann insgeheim selbst veranschlagt hatte. Dass der Onkel und der Vetter deswegen den Kontakt mit ihm abbrachen, kümmerte ihn wenig.
Im eigenen Unternehmen fühlte sich Bettermann bis vor einigen Jahren als "Motor" und lehnte Berater von draußen strikt ab. Begründung: "Die käuen sowieso nur wieder." Lieber ließ er Parolen für die Arbeiter erfinden, um diese auf Trab zu halten: "Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit."