Mission Schadensbegrenzung Wie die EU die Brexit-Gespräche angeht

Vor den Verhandlungen über den Austritt Großbritanniens wähnt sich die EU in einer starken Position. Inzwischen stehen knallharte Forderungskataloge. Eines steht fest: Ganz einfach wird der Brexit nicht.

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Sollte die britische Premierministerin Theresa May im Juni in ihrem Amt als Premierministerin bestätigt werden, wird sie sich knallharten Verhandlungen mit der EU stellen müssen. Quelle: dpa

Brüssel Zuerst schien die Europäische Union wie erstarrt, überrumpelt und tief gekränkt vom Liebesentzug der Briten. Es folgten Trauer und Trotz, Selbstzweifel und Streit. Jetzt aber scheint die Rest-EU der 27 gefasst und bereit für die Verhandlungen über den Brexit. Kühl, präzise und stählern haben sie ihre Ziele formuliert. EU-Ratspräsident Donald Tusk hat das Motto vorgegeben: „Im Kern geht es um Schadensbegrenzung.“

Dieser Linie folgen die am Montag von Experten der 27 bleibenden Staaten vereinbarten Verhandlungsleitlinien, die Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre EU-Kollegen bei einem Sondergipfel am Samstag billigen sollen. Sie liegen der Deutschen Presse-Agentur vor, ebenso wie ein Arbeitspapier des EU-Chefunterhändlers Michel Barnier. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dürfte sie im Gepäck haben, wenn er am Mittwoch zu Premierministerin Theresa May nach London reist. Etwas Reisediplomatie ist sicher angebracht. Denn einige Punkte stoßen die Briten vor den Kopf.

Einer davon ist die geforderte Abfolge der Verhandlungen. Anders als May fordert die EU zwei getrennte Phasen: Zuerst soll die Trennung geklärt werden, danach die künftigen Beziehungen. Damit will die EU einen Hebel haben für eine gütliche Einigung über zwei zentrale Punkte: „Klarheit und Rechtssicherheit für Bürger, Unternehmen, Betroffene und internationale Partner“ sowie die Schlussrechnung des Vereinigten Königreichs nach mehr als 40 Jahren Mitgliedschaft, die auf bis zu 60 Milliarden Euro geschätzt wird.

Wie kompliziert beide Punkte werden können, zeigt Barniers Arbeitspapier. Welche Rechte sollen die Millionen EU-Bürger in Großbritannien und die Briten in der EU nach dem Brexit behalten? Die EU macht eine lange Liste auf. Aufenthalt, Wohnrecht, Zugang zum Arbeitsmarkt, Sozialbezüge, Steuervorteile, Ausbildung, das Recht auf selbstständige Tätigkeit, die weitere gegenseitige Anerkennung bereits vorhandener Studienabschlüsse.

Wer fünf Jahre in Großbritannien gelebt hat, soll ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht bekommen. Und dieses sollte „in einem einfachen und raschen Verfahren vergeben werden, das entweder keine Gebühren kostet oder nur so viel, wie auch Einheimischen für ähnliche Papiere abverlangt werden“. Dahinter stehen Horrorgeschichten von EU-Bürgern in Großbritannien, die sich mit 85-seitigen Anträgen auf Bleiberecht herumplagen. Darüber hinaus will die EU einen Familiennachzug „zu jedem Zeitpunkt vor oder nach dem Austrittsdatum“. Das heißt, es könnten noch Tausende aus der EU kommen und ein Bleiberecht beanspruchen, vielleicht Zehntausende.

Bei der Schlussabrechnung - für May politisch ein heißes Eisen, weil der Brexit ja Geld sparen soll - gibt sich die EU ähnlich rigoros. „Es sollte eine einzige finanzielle Vereinbarung mit Blick auf den Haushalt der Union und auf die Beendigung der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in allen Institutionen und Organisationen unter dem Dach der EU-Verträge geben“, heißt es im Barnier-Papier.

Gemeint sind unter anderem die Europäische Zentralbank, die Europäische Investitionsbank, der Europäische Entwicklungsfonds und der Geldtopf zur Unterstützung von Flüchtlingen in der Türkei. Geklärt werden müssten Schulden, Folgekosten, Haushaltsverpflichtungen und „alle anderen Pflichten“. Zudem soll Großbritannien die Kosten für den Umzug der EU-Einrichtungen im Königreich berappen. Und alle Rechnungen sind bitteschön in Euro zu begleichen.

Das sind zunächst einmal nicht mehr als Forderungen, die Gespräche beginnen ernsthaft erst nach der britischen Parlamentswahl am 8. Juni. Es ist das Wünsch-dir-was einer der beiden Seiten und somit auch Verhandlungsmasse. Die EU wähnt sich aber in einer starken Position.

Sie allein will entscheiden, wann Phase zwei beginnt und über das gesprochen wird, was May besonders wichtig ist: das gewünschte Freihandelsabkommen mit der EU. „Der Europäische Rat wird die Fortschritte genau beobachten und feststellen, wann ausreichender Fortschritt erzielt wurde, um den Eintritt der Verhandlungen in die nächste Phase zu erlauben“, heißt es in den Leitlinien.

Dahinter steckt das Kalkül, dass London einen EU-Austritt ohne Anschlussregelung unbedingt vermeiden will - weil er wirtschaftlich ein Desaster wäre und zwar mehr noch für Großbritannien als für die EU, davon ist man in Brüssel überzeugt. Wie sagte doch EU-Ratspräsident Tusk, nachdem May Ende März den Austrittsantrag gestellt hatte? „Die EU wird nicht auf Bestrafung abzielen. Der Brexit selbst ist Strafe genug.“

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