Monostädte Russlands sterbende Strukturen

Die Sowjets stampften einst riesige Retortenstädte aus dem Boden – künstlichen Wohnraum für Arbeiter großer Kombinate. Fast alle sind jetzt bankrott. Russlands Regierung steht vor der Wahl, 350 Monostädte durchzufüttern oder ausbluten zu lassen.

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Proteste in Togliatti. Am Quelle: AP

Vermutlich muss man den Sozialismus leibhaftig erlebt haben, um zu verstehen, was Menschen in einer Stadt wie Togliatti hält. So wie Andrej Syrzow. Anfang der Siebzigerjahre zog der 41-Jährige aus einer schmutzigen Industriestadt in das Nest an der Wolga. Seine Eltern sollten beim Aufbau der sowjetischen Autoindustrie anpacken und die Wolga-Autowerke errichten, die heute AvtoVAZ heißen und russische Billigautos der Marke Lada bauen.

Syrzow war damals keine vier Jahre alt, doch die Erinnerung an den Umzug in die damals neue Autostadt ist noch klar. Die opulente Drei-Zimmer-Wohnung roch nach trocknendem Mörtel. Vor dem Haus standen Spielgeräte, die er bis dahin ebenso wenig gesehen hatte wie Wurst und Käse in den neuen Geschäften Togliattis.

Frisch begrünte breite Prospekte führten schnurstracks zum nagelneuen Autowerk, wo bald der Lada Schiguli gefertigt werden sollte. „Meine Eltern waren unglaublich stolz. Sie hatten das Gefühl, an einem großen sozialistischen Projekt teilzuhaben.“ So wie Tausende Zugereiste, die der Arbeit, des Lohns und der Aufbruchstimmung wegen nach Togliatti kamen – und blieben.

Umzug nach St. Petersburg

Jetzt sitzt der Ingenieur Syrzow in einem kleinen Mietbüro im Parterre eines Mittelklassehotels. Ein Jahrzehnt hat der hagere Mann mit grau meliertem Haar und ausgewaschenem Poloshirt bei AvtoVAZ gearbeitet, ehe er resigniert als Handelsvertreter beim deutschen Metallhändler Eurotube anheuerte. Die Lada-Werke seien „resistent für Veränderungen“, die Mitarbeiter ohne Ideen. Kein Wunder, dass der Autokonzern an die Wand gefahren wird. Und mit ihm die ganze Stadt am Abgrund steht.

Togliatti hat ein Problem, das typisch ist für Russland: Die Stadt hängt am Tropf eines gigantischen Industriebetriebs, um den herum sie einst erbaut worden ist. Wie rund 350 andere sogenannte Monostädte auch, in denen ein einzelner Betrieb die Hälfte der Industrieproduktion erzielt oder mehr als ein Viertel der Erwerbstätigen beschäftigt. In diesem Raster bleibt jede dritte russische Stadt hängen.

Russlands hemdsärmeliger Premierminister Wladimir Putin hat in den letzten Monaten viele Milliarden an die Unternehmen der Monostädte verteilt, damit sie wenigstens die Löhne auszahlen. Jetzt sollen seine Ministerien einen Plan erstellen, wie die Abhängigkeit der Städte von ihren Kombinaten verringert werden kann. Industrielle Brachen wie Togliatti will Moskau modernisieren und diversifizieren. Fragt sich nur, wie?

Die ersten Ideen aus Togliatti lassen schmunzeln: Ein Teil der bisher 20 000 Entlassenen soll nach Tichwin nahe St. Petersburg umgesiedelt werden, wo ein Waggonwerk Mitarbeiter sucht. Und in Togliatti wollen die Stadtväter eine Sonderwirtschaftszone einrichten, in der eine Spielzeugfabrik Beschäftigung für freigesetzte AvtoVAZ-Arbeiter schaffen soll.

„Solche Hingespinste zeigen, dass in unserem Staat niemand die realen Probleme versteht“, regt sich Natalja Subarewitsch auf, die als Geografin für das Unabhängige Institut für Sozialpolitik in Moskau arbeitet. Um Russlands Monostädte fit für die Zukunft zu machen, müssten Regierung, Landesfürsten und örtliche Großunternehmer gemeinsam Wachstumsstrategien ausarbeiten, das Investitionsklima verbessern, Investoren anlocken. Davon sei aber nichts zu sehen.

Der Oligarch Oleg Deripaska Quelle: AP

Jetzt gibt’s erst einmal Geld aus Moskau. Mit 2,3 Milliarden Euro will Putin die Monostädte durch die Krise schleppen. Vom Geldregen aus der föderalen Gießkanne profitieren aber nicht alle. Dafür ist die Zahl der Pleitestädte einfach zu gewaltig, die Probleme sind zu vielfältig.

In Pikaljowo, einer Stadt mit 60.000 Einwohnern nahe St. Petersburg, blockierten Arbeiter eines Zementwerks im vorigen Juni eine Fernstraße. Der Eigentümer, Oligarch Oleg Deripaska, hatte monatelang keine Löhne gezahlt. Als Putin ein paar Tage später herbeiflog, um den Industriellen zu rüffeln, waren die Zahlungen zwar schon erfolgt. Doch das eigentliche Problem blieb bestehen: Pikaljowo lebt nur von dem Deripaska-Werk.

Die Betriebe, in deren Nachbarschaft einst die Reißbrettstädte hochgezogen worden waren, stehen überwiegend vor dem Bankrott. Oligarchen kauften diese früheren Sowjet-Kombinate billig ein. Doch sie investierten keinen Rubel, um deren Effizienz und Produktivität zu erhöhen. Mit zu viel Personal an veralteten Anlagen fertigen die Kombinate Metallteile, Maschinen, Flachs oder Möbel – oft in miserabler Qualität und dennoch viel zu teuer. Im Boom fällt das nicht auf, in der Krise umso mehr.

Im 24. Stock der Lada-Zentrale in Togliatti sitzt Vizepräsident Eduard Wajno, ein netter kleiner Mann, der im Februar 2008 den Einstieg des französischen Autoherstellers Renault eingefädelt hat. Die Franzosen sollen Lada aus der Krise ziehen, indem sie das Billigmodell Logan produzieren. Wajno, ein feiner Herr mit baltischen Wurzeln, schlohweißem Haar und akkurat gestutztem Schnauzbart, erklärt, wie Lada aus seiner tiefen Krise kommen könnte: „Wir müssen Kosten senken und die Qualität erhöhen.“ Aha!

Pulverfass Togliatti

Vor der Krise hat AvtoVAZ rund 700.000 Autos pro Jahr verkauft. Im Januar wurden sie nicht einmal 20.000 davon los. Das Gros der Belegschaft befindet sich in Kurzarbeit und verdient nur noch die Hälfte. Trotzdem werden doppelt so viele Autos produziert und bei den Händlern zwangsweise geparkt. Alles nur, um die Arbeiter ruhig zu halten. Manche Arbeiter verdienen sich ein Zubrot beim Staat, indem sie in der Stadt Schnee schippen, die Aschenbecher in der Kantine leeren oder Anlagen abbauen.

Derzeit entlässt der Autoriese rund 20.000 Mitarbeiter, jeden fünften. Zuallererst ältere Jahrgänge, dann ein paar Tausend jüngere Arbeiter. In einem Dokument des Industrieministeriums, das der WirtschaftsWoche vorliegt, wird die „Soll-Zahl an Mitarbeitern“ bei AvtoVAZ auf 55.000 taxiert, jeder zweite soll also entlassen werden. Wajno bestreitet das und sagt: „Die Mitarbeiter müssen sich keine Sorgen machen.“ Doch was der nette Herr Wajno sagt, ist ziemlich egal. Die Politik wird in Moskau gemacht.

Dort sitzt Premier Putin und fürchtet Aufstände. So wie Ende Januar, als 10.000 Menschen in Kaliningrad gegen Putins kurzsichtige Wirtschaftspolitik demonstrierten – und seinen Rücktritt forderten. In Togliatti kam es im Oktober zu Protesten gegen den Stellenabbau. Damit das Pulverfass nicht explodiert, hat Putin dem Autokonzern rund 1,67 Milliarden Euro Staatshilfe überweisen lassen. Damit lassen sich zumindest kurzzeitig Gehälter und Abfindungen bezahlen.

An die eigentlichen Probleme, sagt Geografin Subarewitsch, traut sich niemand heran. Der Staat müsste jetzt in Bildung investieren, Gründern helfen, Kreditvergaben erleichtern und nicht zuletzt: „Wir haben eine gewaltige Menge miserabler Betriebe, von denen ein Teil insolvent gehen muss.“ Dann würden die Monostädte von allein aussterben – durch Migration und demografischen Wandel.

Trotzdem will Andrej Syrzow nicht weg aus Togliatti. „Hier sind die Mieten so günstig wie sonst nirgendwo in Russland“, sagt er. Er hat den sowjetischen Traum nicht vergessen. Respekt vor der Vergangenheit bedeutet, vor der Zukunft nicht zu resignieren.

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