Mordfall Litwinenko An Putin perlt (fast) alles ab

Es klingt skandalös: London verdächtigt Russlands Präsidenten indirekt des Auftragsmords. Einen Demokraten würde das Kopf und Kragen kosten – doch den Autokraten Wladimir Putin macht dieser Vorwurf nur stärker. Warum eigentlich?

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An Putin perlt (fast) alles ab. Quelle: dpa Picture-Alliance

Draußen in der Welt brauste an jenem Donnerstag mal wieder ein Sturm der Entrüstung über Wladimir Putin auf. London bestellte den russischen Botschafter ein, Premierminister David Cameron will den Kremlchef alsbald ob eines schweren Vorwurfs sprechen: Laut einem britischen Untersuchungsbericht soll der Kreml 2006 den Giftmord an Ex-Spion Alexander Litwinenko „wahrscheinlich“ gebilligt haben. Manch ein Twitterer oder Online-Redakteur verstieg sich sogleich zu der Mutmaßung, dieser Skandal könnte Putin gefährlich werden. Diesmal aber wirklich! Oder? Im Kreml war von diesem Sturm nichts zu spüren, es herrschte „Business as usual“. Während ihn die westliche Welt des Mordes verdächtigte, stauchte Wladimir Putin im großen Rundsaal des Hauptpalasts an jenem Nachmittag Bildungspolitiker zusammen – live und in Farbe, wie üblich.

Fünf Folgen der Wirtschaftskrise in Russland

Den Vorwurf der Billigung eines Auftragsmords, tat ein Kremlsprecher später lapidar als „Witz“ ab. Punkt. Thema abgehakt. Mit dem Abstand eines Tages lässt sich nüchtern festhalten: Selbst schwere Vorwürfe wie der des Mordes perlen an Putin ab wie Wasser auf einem Regenschirm. Hierzulande würde der Stuhl jedes demokratisch gewählten Politikers bedrohlich wackeln – aber dem Autokraten Putin wird nichts gefährlich. Weder der britische Untersuchungsbericht, noch Berichte russischer Blogger über seinen privaten Prunkpalast am Schwarzen Meer oder die wundersame Geldvermehrung der mit Putin befreundeten Rotenberg-Brüder. Mehr noch: Putin sitzt heute, inmitten der wohl schwersten Wirtschaftskrise seit 1998, so fest im Sattel wie nie zuvor. Laut Umfragen des Meinungsforschungszentrums WZIOM bewerten 87 Prozent der Russen die Arbeit ihres Präsidenten positiv. Aber warum eigentlich?

Wie Muskelprotz Putin sich fit hält
In Sotschi ließ sich Sportfan Wladimir Putin nicht nur auf den Tribünen blicken. Hier posiert er mit Teilnehmern der Paralympischen Spiele. Quelle: dpa
Mit schicker Sonnenbrille... Quelle: rtr
...verfolgte er die Wettkämpfe auf den Pisten von Krasnaya Polyana. An seiner Seite: der russische Sportminister Vitaly Mutko. Quelle: dpa
Hier geht es im Sessellift mit Russlands Ministerpräsident Dmitri Medwedew (Mitte) auf den Berg – zur nächsten Abfahrt. Quelle: rtr
Um ein wenig Muskeln aufzubauen, hat Wladimir Putin als schmächtiger Junge den Nutzen von Judo erlebt. 2005 stieg er zu Showzwecken noch einmal auf die Matte. Quelle: AP
Mit seinen Kampfsportkenntnissen – die er hier bei einer Trainingsstunde in St. Peterburg noch einmal vorführte – konnte sich der als schwächlich beschriebene „Wolodja“ in seiner Heimatstadt gegen stärkere Nachbarjungs verteidigen. Quelle: REUTERS
Legendär sind die Aufnahmen, die Putin in freier Wildbahn zeigen. Hier als Indiana-Jones-Double in Sibirien... Quelle: AP

Der unabhängige Moskauer Soziologe Lew Gudkow spricht oft von der „Alternativlosigkeit“, um die hohe Unterstützung für Wladimir Putin zu erklären. Das politische System dieses Landes wurde in den rund 16 Jahren seiner Herrschaft völlig auf Putin zugeschnitten, ein politischer Wettbewerb, ein Pluralismus der Ideen, finden praktisch nicht statt. Sie haben also nur einen Herrschenden, die Russen. Den können sie mögen oder nicht. Aber eine Alternative zu Wladimir Putin gibt es nicht. Freilich zieht das staatlich kontrollierte Fernsehen seit Jahren alle Register, um diesen einzigen Herrscher positiv mit schönen Bildern in Szene zu setzen: Putin, der Krisenmanager. Putin, der Naturbursche. Putin, der Friedensstifter. Putin, der Revanchist einer vom Westen gedemütigten Nation. Jeder Russe kann selbst entscheiden, warum er Putin gut findet. Nur Kritik ist nicht gestattet. Sie kommt in diesen perfiden System medialer Steuerung nicht vor, niemals!

Kleine Proteste werden nicht gezeigt.

Selbst ein Interview der Bild-Zeitung mit Putin, das durchaus kritische Fragen und differenzierte Antworten enthielt, schliffen die PR-Leute des Kremls: In der russischen Übersetzung wurden kritische Fragen entschärft oder so verdreht, dass sie sich wie Selbstkritik des Westens lasen. Im Kreml waren sie nicht immer so paranoid, was Kritik angeht. Es gab zumindest in der urbanen Mittelschicht stets lebhafte Debatten über nötige Reformen – und die kulminierten Ende 2011 auf den Straßen, als viele tausend Russen gegen Wahlfälschungen und für eine Modernisierung ihres Landes demonstrierten. Für Putin dürfte dies ein Warnsignal gewesen sein: Will er Reformen vermeiden will, muss er die mittelständischen Russen auf andere Weise hinter sich bringen.

"Viele die zu uns kommen, werden begeisterte Deutsche sein"
„Einfach zu sagen, in unserer Zeit lassen sich 3000 Kilometer Grenze nicht mehr schützen, ist eine Kapitulation des Rechtsstaats vor der Realität. Wenn wir die Grenzen nicht sehen, wird uns die Bevölkerung die Grenzen aufzeigen.“ Horst Seehofer, bayrischer Ministerpräsident (CSU), zur Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die EU-Außengrenzen ließen sich nicht effektiv schützen Quelle: dpa
„Heiße Luft! Wir haben keine Zeit, uns mit solchen Verbalattacken auseinanderzusetzen.“ Heiko Maas, Bundesjustizminister (SPD), zur angedrohten Verfassungsklage wegen der Flüchtlingskrise durch Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) Quelle: dpa
„Transitzonen an den Landesgrenzen stehen grundsätzlich im Einklang mit einer EU-Verfahrensrichtlinie.“ Volker Kauder, Unionsfraktionschef (CDU), zur Regulierung der Flüchtlingsströme Quelle: dpa
Peter Altmaier Quelle: dpa
„Wir erleben in Europa einen Wettlauf der Schäbigkeit. Europa ist reich.“ Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages (Grüne), zum Verhalten der EU-Länder bei der Regulierung der Flüchtlingsströme Quelle: dpa
„Wir müssen uns stärker einmischen. Außen- und Innenpolitik verschwimmen immer mehr. Was wir draußen nicht geregelt kriegen, macht uns drinnen Probleme.“ Angela Merkel, Bundeskanzlerin (CDU), über die Rolle Deutschlands Quelle: AP
„Die Sorge vor einem Abrutschen der Weltwirtschaft in eine neuerliche Krise ist überzogen.“ Jürgen Fitschen, Co-Chef der Deutschen Bank, über die Wachstumsschwäche von Schwellenländern Quelle: dpa

Zum Beispiel mit Hurra-Patriotismus. Und noch mehr Kontrolle. Vier Jahre später ist eine paradoxe Situation entstanden: Obwohl Russland angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise ökonomisch so schwach ist wie nie zuvor unter Putins Herrschaft, fühlt sich die Nation groß und stark. Die Krim-Annexion gilt als Ausdruck neuen nationalen Selbstbewusstseins. Die Syrien-Intervention sehen viele als Symbol, dass Russland wieder als Großmacht die Weltpolitik beeinflusst, so wie einst die Sowjetunion. Der Westen und vor allem die USA gelten gemeinhin als feindlich, doch Putin bietet dem Gegner die Stirn. Das wir-sind-wieder-wer-Gefühl vereint einfache Russen und jene der Mittelschicht hinter Putin – wobei die Staatsmedien mit ihren Deutungen etwa der Ukraine-Krise nachhelfen. Eine Weile dürften diese Spielchen funktionieren – aber nicht auf ewig. Der fürchterlich niedrige Ölpreis zwingt die russische Regierung zu einem harten Sparkurs, der alsbald auch die Renten, die medizinische Versorgung, Schulen oder den Nahverkehr treffen werden.

So benehmen Sie sich in Russland richtig

Vor allem sinkt der Rubel in den Keller, was Importe unerschwinglich macht und den Urlaub im Ausland erst Recht. In Supermärkten bleiben Regale leer, weil Importwaren nicht in der nötigen Menge von heimischen Waren ersetzt werden können. Vor einigen Tagen gab es in einer Moskauer Bank erstmals Randale, weil die Sparer wie schon 1998 um ihre Vermögen fürchten. Vorerst schaffen es die Meinungsmacher aus Moskau, die Schuld für die Wirtschaftsmisere auf andere zu lenken: Die „anti-russische Sanktionen des Westens“, die nie in Zusammenhang mit der Ukraine-Invasion der Russen genannt werden, sind eine beliebte Rechtfertigung. Hinter den niedrigen Ölpreisen wird gemeinhin ein Komplott der USA vermutet, die Preise angeblich zur Schwächung der Russen bewusst niedrig halten. Solcherlei Selbstüberschätzung und absurde Verschwörungstheorien können die Wahrheit indes nicht ewig kaschieren: Russlands schwere Wirtschaftskrise ist eine Folge mangelnder Reformen.

Hätte Putin sein Land geöffnet, den Staatsanteil verringert, den Mittelstand gefördert und auf außenpolitische Abenteuer wie die Krim-Annexion verzichtet – Russland wäre heute nicht so abhängig vom Ölpreis, es gäbe keine massenhafte Kapitalflucht, keine Abwanderung von Eliten. Erst allmählich werden Folgen spürbar, indem die Armut über Arbeitslosigkeit und Inflation bei den einfachen Russen ankommt. Irgendwann werden sie sich bei Putin bedanken, dem sie so vieles kritiklos haben durchgehen lassen. Hoffen wir, dass dies endlich in Reformen mündet – und nicht in Revolution und Chaos.

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