Draußen in der Welt brauste an jenem Donnerstag mal wieder ein Sturm der Entrüstung über Wladimir Putin auf. London bestellte den russischen Botschafter ein, Premierminister David Cameron will den Kremlchef alsbald ob eines schweren Vorwurfs sprechen: Laut einem britischen Untersuchungsbericht soll der Kreml 2006 den Giftmord an Ex-Spion Alexander Litwinenko „wahrscheinlich“ gebilligt haben. Manch ein Twitterer oder Online-Redakteur verstieg sich sogleich zu der Mutmaßung, dieser Skandal könnte Putin gefährlich werden. Diesmal aber wirklich! Oder? Im Kreml war von diesem Sturm nichts zu spüren, es herrschte „Business as usual“. Während ihn die westliche Welt des Mordes verdächtigte, stauchte Wladimir Putin im großen Rundsaal des Hauptpalasts an jenem Nachmittag Bildungspolitiker zusammen – live und in Farbe, wie üblich.
Fünf Folgen der Wirtschaftskrise in Russland
Das von den Einnahmen aus dem Geschäft mit Öl und Gas abhängige Russland steckt in einer Rezession. Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew erwartet einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um drei Prozent. Im Staatshaushalt klafft eine Finanzlücke.
Wegen des starken Ölpreisverfalls ist der Rubelkurs im vergangenen Jahr im Vergleich zum Dollar und Euro massiv eingebrochen. Den Höhepunkt erreichte der Wertverfall Mitte Dezember, als ein Euro vorübergehend fast 100 Rubel kostete - das entspricht einem Absturz von 90 Prozentpunkten seit Januar 2014. In den vergangenen Wochen erholte sich der Rubel ein wenig. Anfang März mussten Russen für einen Euro noch rund 66 Rubel bezahlen, fast doppelt so viel wie ein Jahr zuvor.
Um den schwächelnden Rubel zu stützen, verkauft die russische Zentralbank im großen Stil Devisen, die die Rohstoffmacht mit dem Verkauf von Öl und Gas angespart hat. Die internationalen Währungsreserven schrumpften nach Angaben der Notenbank seit März 2014 um mehr als ein Viertel von fast 500 Milliarden Dollar (etwa 460 Mrd Euro) auf 360 Milliarden Dollar.
Das Leben in Russland wird rasant teurer. Das merken die Menschen vor allem an der Miete und an der Kasse im Supermarkt. Das Wirtschaftsministerium erwartet für dieses Jahr eine Inflation von rund 12 Prozent. Die Preise für Lebensmittel stiegen in den vergangenen Monaten aber im Durchschnitt sogar um rund 20 Prozent. Experten warnen wegen der Krise in Russland vor einer deutlich höheren Inflation. Manche gehen von bis zu 17 Prozent aus.
Der massive Abzug von Kapital aus Russland ist nach Meinung von Ex-Finanzminister Alexej Kudrin ein schwerer Schlag für die heimische Wirtschaft. 2014 wurden nach Angaben der Zentralbank Vermögenswerte im Wert von mehr als 150 Milliarden Dollar (140 Mrd Euro) aus Russland verlegt, fast zweieinhalb Mal so viel wie im Vorjahr. Für 2015 erwarten die Behörden eine Kapitalflucht von bis zu 100 Milliarden Dollar. Wegen der Senkung der Kreditwürdigkeit Russlands durch internationale Ratingagenturen warnen Experten sogar vor Kapitalflucht von bis zu 135 Milliarden Dollar.
Den Vorwurf der Billigung eines Auftragsmords, tat ein Kremlsprecher später lapidar als „Witz“ ab. Punkt. Thema abgehakt. Mit dem Abstand eines Tages lässt sich nüchtern festhalten: Selbst schwere Vorwürfe wie der des Mordes perlen an Putin ab wie Wasser auf einem Regenschirm. Hierzulande würde der Stuhl jedes demokratisch gewählten Politikers bedrohlich wackeln – aber dem Autokraten Putin wird nichts gefährlich. Weder der britische Untersuchungsbericht, noch Berichte russischer Blogger über seinen privaten Prunkpalast am Schwarzen Meer oder die wundersame Geldvermehrung der mit Putin befreundeten Rotenberg-Brüder. Mehr noch: Putin sitzt heute, inmitten der wohl schwersten Wirtschaftskrise seit 1998, so fest im Sattel wie nie zuvor. Laut Umfragen des Meinungsforschungszentrums WZIOM bewerten 87 Prozent der Russen die Arbeit ihres Präsidenten positiv. Aber warum eigentlich?
Der unabhängige Moskauer Soziologe Lew Gudkow spricht oft von der „Alternativlosigkeit“, um die hohe Unterstützung für Wladimir Putin zu erklären. Das politische System dieses Landes wurde in den rund 16 Jahren seiner Herrschaft völlig auf Putin zugeschnitten, ein politischer Wettbewerb, ein Pluralismus der Ideen, finden praktisch nicht statt. Sie haben also nur einen Herrschenden, die Russen. Den können sie mögen oder nicht. Aber eine Alternative zu Wladimir Putin gibt es nicht. Freilich zieht das staatlich kontrollierte Fernsehen seit Jahren alle Register, um diesen einzigen Herrscher positiv mit schönen Bildern in Szene zu setzen: Putin, der Krisenmanager. Putin, der Naturbursche. Putin, der Friedensstifter. Putin, der Revanchist einer vom Westen gedemütigten Nation. Jeder Russe kann selbst entscheiden, warum er Putin gut findet. Nur Kritik ist nicht gestattet. Sie kommt in diesen perfiden System medialer Steuerung nicht vor, niemals!
Kleine Proteste werden nicht gezeigt.
Selbst ein Interview der Bild-Zeitung mit Putin, das durchaus kritische Fragen und differenzierte Antworten enthielt, schliffen die PR-Leute des Kremls: In der russischen Übersetzung wurden kritische Fragen entschärft oder so verdreht, dass sie sich wie Selbstkritik des Westens lasen. Im Kreml waren sie nicht immer so paranoid, was Kritik angeht. Es gab zumindest in der urbanen Mittelschicht stets lebhafte Debatten über nötige Reformen – und die kulminierten Ende 2011 auf den Straßen, als viele tausend Russen gegen Wahlfälschungen und für eine Modernisierung ihres Landes demonstrierten. Für Putin dürfte dies ein Warnsignal gewesen sein: Will er Reformen vermeiden will, muss er die mittelständischen Russen auf andere Weise hinter sich bringen.
Zum Beispiel mit Hurra-Patriotismus. Und noch mehr Kontrolle. Vier Jahre später ist eine paradoxe Situation entstanden: Obwohl Russland angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise ökonomisch so schwach ist wie nie zuvor unter Putins Herrschaft, fühlt sich die Nation groß und stark. Die Krim-Annexion gilt als Ausdruck neuen nationalen Selbstbewusstseins. Die Syrien-Intervention sehen viele als Symbol, dass Russland wieder als Großmacht die Weltpolitik beeinflusst, so wie einst die Sowjetunion. Der Westen und vor allem die USA gelten gemeinhin als feindlich, doch Putin bietet dem Gegner die Stirn. Das wir-sind-wieder-wer-Gefühl vereint einfache Russen und jene der Mittelschicht hinter Putin – wobei die Staatsmedien mit ihren Deutungen etwa der Ukraine-Krise nachhelfen. Eine Weile dürften diese Spielchen funktionieren – aber nicht auf ewig. Der fürchterlich niedrige Ölpreis zwingt die russische Regierung zu einem harten Sparkurs, der alsbald auch die Renten, die medizinische Versorgung, Schulen oder den Nahverkehr treffen werden.
So benehmen Sie sich in Russland richtig
Vorsicht bei Dekorationen! Mit bestimmten Farben und Zahlen assoziieren Russen Gutes oder Schlechtes. Günstig: Rot (Schönheit, Auferstehung, Liebe), Grün, Blau, Drei, Sieben, Zwölf. Ungünstig: Schwarz, Dreizehn. Weiß steht für Reinheit, aber auch für Trauer.
Die typische Form besteht aus Vornamen und Vatersnamen (dem abgewandelten Vornamen des Vaters). Heißt Ihr Gegenüber Sergej und sein Vater Oskar, lautet die Anrede: „Sergej Oskarowitsch“. Mit hierarchischen Titeln werden nur hochrangige Personen wie Generaldirektoren oder Minister angeredet.
Operatives regelt man beim Lunch, das preiswert bleiben darf. Beim Abendessen sollten Sie aber nicht knausern! Hier werden Freundschaften vertieft.
Der Körperabstand in Russland ist geringer als bei uns. Im Gespräch wird auch schon mal der Arm berührt oder auf die Schulter geklopft. Ein Sympathiebeweis! Wenn man sich besser kennt, geht das – auch unter Männern – bis zur Umarmung oder zum Wangenkuss.
Seien Sie am Anfang nie zu freundlich. Betont lockeres und humorvolles Auftreten stößt Russen als zu amerikanisch auf. Es kann sogar als Schwäche ausgelegt werden. Der Ton wird freundlicher, je besser man sich kennt.
Von Frauen wird famoses Aussehen und verbale Zurückhaltung erwartet. Frauen passiert es, dass ihnen nur ein Nicken geschenkt wird, während ein Geschäftspartner ihrem männlichen Kollegen ausgiebig die Hand schüttelt. Das ändert sich: In modernen Unternehmen nimmt die Zahl der Frauen im Management zu.
Kleine Hilfestellungen fördern das Vertrauen und werden erwartet. Ein Russe verstünde es nicht, wenn Sie ihm die Bitte abschlagen, beim Visumantrag zu helfen oder sich in Deutschland über Ausbildungschancen für seine Kinder zu erkundigen. Umgekehrt werden Gefälligkeiten nicht vergessen.
Geschenke mitzubringen, gehört zum guten Ton. Ihr Wert, der persönliche Bezug und die Sorgfalt bei der Auswahl sollten mit der Dauer und Tiefe der Beziehung zunehmen. Blumen sind gut, aber: In gerader Zahl schenkt man sie nur bei Begräbnissen. Gelbe und weiße Blumen werden mit Trauer und Verlust assoziiert.
Zugeständnisse sollten Sie nur mit Gegenleistungen machen. Begründen Sie Ihr Einlenken mit persönlicher Sympathie und dem Interesse an einer langfristigen Beziehung. Wer zu schnell Kompromisse eingeht, wirkt schwach – und wird nicht geschätzt.
Der wichtigste Mann im Unternehmen ist der Chef. Halten Sie sich stets an ihn, denn in den meisten Unternehmen passiert nichts, was nicht über seinen Tisch gegangen ist. Delegiert wird selten.
Russen sind belesen und interessieren sich sowohl für Technik und Naturwissenschaft als auch für Kunst, Musik und Literatur. Wer auf hohem Niveau mitplaudern kann, gewinnt an Format. Wer Tolstoi, Dostojewski oder Puschkin gelesen hat, genießt Respekt.
Deutsche stehen im Ruf, pünktlich, verlässlich und diszipliniert zu sein. Das ist ein Bonus, der genutzt werden sollte. Wer hingegen die Erwartungen enttäuscht, verliert enorm an Sympathie.
Wer etwas erreichen will, sollte Russisch sprechen, zumindest aber einen Dolmetscher haben. Viele Russen halten es so wie die Amerikaner: unsere Sprache oder keine.
Verliert ein Russe plötzlich die Contenance, sollten Sie ihm selbstbewusst und entschieden begegnen – jedoch nie belehrend. Lassen Sie sich nicht aus der Ruhe bringen, wenn er auf den Tisch haut oder wutschnaubend den Raum verlässt. Das ist Temperament – zuweilen auch Taktik.
Um das Wodkatrinken kommt man in Russland oft nicht herum. Der erste Trinkspruch ist Sache des Gastgebers. Später wird aber auch ein Toast vom Gast erwartet. Trinksprüche drehen sich dabei häufig um die Freundschaft, das Leben oder die Schönheit der
Frauen. Den Gastgeber zu loben, ist selbstverständlich immer angebracht
Vor allem sinkt der Rubel in den Keller, was Importe unerschwinglich macht und den Urlaub im Ausland erst Recht. In Supermärkten bleiben Regale leer, weil Importwaren nicht in der nötigen Menge von heimischen Waren ersetzt werden können. Vor einigen Tagen gab es in einer Moskauer Bank erstmals Randale, weil die Sparer wie schon 1998 um ihre Vermögen fürchten. Vorerst schaffen es die Meinungsmacher aus Moskau, die Schuld für die Wirtschaftsmisere auf andere zu lenken: Die „anti-russische Sanktionen des Westens“, die nie in Zusammenhang mit der Ukraine-Invasion der Russen genannt werden, sind eine beliebte Rechtfertigung. Hinter den niedrigen Ölpreisen wird gemeinhin ein Komplott der USA vermutet, die Preise angeblich zur Schwächung der Russen bewusst niedrig halten. Solcherlei Selbstüberschätzung und absurde Verschwörungstheorien können die Wahrheit indes nicht ewig kaschieren: Russlands schwere Wirtschaftskrise ist eine Folge mangelnder Reformen.
Hätte Putin sein Land geöffnet, den Staatsanteil verringert, den Mittelstand gefördert und auf außenpolitische Abenteuer wie die Krim-Annexion verzichtet – Russland wäre heute nicht so abhängig vom Ölpreis, es gäbe keine massenhafte Kapitalflucht, keine Abwanderung von Eliten. Erst allmählich werden Folgen spürbar, indem die Armut über Arbeitslosigkeit und Inflation bei den einfachen Russen ankommt. Irgendwann werden sie sich bei Putin bedanken, dem sie so vieles kritiklos haben durchgehen lassen. Hoffen wir, dass dies endlich in Reformen mündet – und nicht in Revolution und Chaos.