Sicherheitskonferenzen sind keine Wohlfühlveranstaltungen. Sie würden damit ihr eigenes Geschäftsmodell unterminieren. Doch Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Konferenz, die an diesem Wochenende wieder Staatsleute aus aller Welt versammelte, neigt nicht zur Schwarzmalerei.
Umso bemerkenswerter war die Überschrift des Reports, den Ischinger im Vorfeld der Sitzung vorgelegt hatte: „Grenzenlose Krisen, rücksichtslose Spielverderber, hilflose Schutzmächte.“ Nach drei Tagen intensiver Debatten wirkt diese düstere Diagnose berechtigter denn je.
Die Akteure im Syrien-Konflikt
Anhänger von Präsident Baschar al-Assad kontrollieren weiter die meisten großen Städte wie Damaskus, Homs, Teile Aleppos sowie den Küstenstreifen. Syriens Armee hat im langen Krieg sehr gelitten, konnte aber infolge der russischen Luftunterstützung seit September 2015 wieder Landgewinne verzeichnen. Machthaber Assad lehnt einen Rücktritt ab.
Die Terrormiliz beherrscht im Norden und Osten riesige Gebiete, die allerdings meist nur spärlich besiedelt sind. Durch alliierte Luftschläge und kurdische Milizen mussten die Islamisten im Norden Syriens mehrere Niederlagen einstecken. Unter der Herrschaft der Miliz, die auch im Irak große Gebiete kontrolliert, verbleibt die inoffizielle Hauptstadt Raqqa, die bedeutende Versorgungsstrecke entlang des Euphrat und ein kleiner Grenzübergang zur Türkei. Offiziell lehnen alle lokalen und internationalen Akteure den IS ab.
Sie sind vor allem im Nordwesten und Süden Syriens stark. Ihr Spektrum reicht von moderaten Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten.
Die zu Beginn des Kriegs bedeutende Freie Syrische Armee (FSA) hat stark an Einfluss verloren. Sie kämpft vor allem gegen Diktator Assad.
In der „Islamischen Front“ haben sich islamistische Rebellengruppen zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist der Sturz Assads und die Errichtung eines „Islamischen Staates“ – die gleichnamige Terrormiliz lehnen sie jedoch ab. Sie werden von Saudi-Arabien unterstützt und sind ideologisch mit al-Qaida zu vergleichen. Militärisch untersteht ihr auch die „Dschaisch al-Fatah“, die von der Türkei unterstützt wird. Teilweise kooperieren sie mit der al-Nusra-Front, Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida.
Sie ist zersplittert. Das wichtigste Oppositionsbündnis ist die Syrische Nationalkoalition in Istanbul. Diese wird von zahlreichen Staaten als legitim anerkannt, von vielen lokalen Akteuren wie al-Nusra oder der kurdischen PYD jedoch abgelehnt.
In Damaskus sitzen zudem Oppositionsparteien, die vom Regime geduldet werden. Bei einer Konferenz in Riad einigten sich verschiedenen Gruppen auf die Bildung eines Hohen Komitees für Verhandlungen, dem aber einige prominente Vertreter der Opposition nicht angehören.
Kurdische Streitkräfte kontrollieren mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei: Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS.
Dabei kämpfen sie teilweise mit Rebellen zusammen, kooperieren aber auch mit dem Regime. Führende Kraft sind die „Volksverteidigungseinheiten“ YPG der Kurden-Partei PYD, inoffizieller Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese streben einen eigenen kurdischen Staat an – die Türkei lehnt das vehement ab.
Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Beteiligt sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Deutschland stellt sechs Tornados für Aufklärungsflüge über Syrien, ein Flugzeug zur Luftbetankung sowie die Fregatte „Augsburg“, die im Persischen Golf einen Flugzeugträger schützt. Washington unterstützt moderate Regimegegner.
Die Türkei setzt sich für den Sturz Assads ein und unterstützt seit langem Rebellengruppen wie die islamistische Dschaisch al-Fatah. Neben der Sicherung ihrer 900 Kilometer langen Grenze ist die Türkei seit August 2016 auch mit Bodentruppen in Syrien vertreten. Ziel ist neben der Vergeltung für Terroranschläge des IS auch, ein geeintes Kurdengebiet im Norden Syriens zu verhindern.
Der Abschuss eines russischen Flugzeugs über türkischem Luftraum im November 2015 führte zu Spannungen zwischen Russland und der Türkei.
Seit September 2015 fliegt auch Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien. Moskau ist einer der wichtigsten Unterstützer des syrischen Regimes: Rebellenorganisationen werden pauschal als „Terroristen“ bezeichnet und aus der Luft bekämpft. Der Kampf gegen islamistische Rebellen soll auch ein Zeichen an Separatisten im eigenen Land senden.
Geostrategisch möchte Russland seinen Zugriff auf den Mittelmeerhafen Tartus nicht verlieren.
Teheran ist der treueste Unterstützer des Assad-Regimes, auch aus konfessionellen Gründen. Iraner kämpfen an der Seite der syrischen Soldaten. Die von Teheran finanzierte Schiitenmiliz Hisbollah ist ebenfalls in Syrien im Einsatz. Sie fürchten die Unterdrückung der schiitischen Minderheit im Falle eines Sieges sunnitischer Rebellen, aber auch den Verlust von regionalem Einfluss.
Riad ist ein wichtiger Unterstützer vornehmlich islamistischer Rebellen. Sie fordern, dass Assad abtritt. Saudi-Arabien geht es auch darum, den iranischen Einfluss zurückzudrängen. Der Iran ist der saudische Erzrivale im Nahen Osten.
Trotz religiöser Ähnlichkeiten zwischen IS und dem saudischen Wahabismus engagiert sich Saudi-Arabien im Kampf gegen den IS.
Es droht nicht wie in den meisten Münchner Momenten der Vergangenheit eine große Krise, sondern ein gefährlicher Krisenmix – hier sind die aktuell vier größten Gefahren für unsere Sicherheit, unser Gesellschaftsmodell einer freien und offenen Gesellschaft, unseren Wohlstand:
Alle gegen alle
Der russische Premier Dmitri Medwedew machte Schlagzeilen, als er von einem neuen kalten Krieg sprach, zwischen Russland und dem Westen. Doch in München drehten sich die Debatten eher um einen drohenden Kampf aller gegen alle. Im Globalisierungswettlauf, der den Nationalstaat aufheben soll, erlebt der Nationalstaat gerade eine Renaissance.
Wir stehen vor connectivity wars, heißt es in einer Studie des European Council on Foreign Relations mit dem Untertitel: „Warum Migration, Finanzen und Handel die geo-ökonomischen Schlachtfelder der Zukunft darstellen.“ Deren Kernthese lautet: Die engeren Bande sind neben Chance auch Gefahr – weil so ganz neue Waffen in Umlauf geraten. Die Amerikaner etwa setzen ihre Dominanz des globalen Finanzsystems als Waffe ein, und zwar nicht nur gegen korrupte Fifa-Funktionäre.
Staaten wie die Türkei oder Griechenland nutzen Flüchtlinge als Waffe, um liberale Demokratien zu erpressen, bei Menschenrechten oder Budgettreue nicht mehr so genau hinzuschauen. Saudis und US-Frackingfirmen überbieten sich im Wettlauf um das billigste Öl, in der Hoffnung, länger mit einer Waffe gegen den jeweiligen Marktgegner stehenzubleiben. Und „Big Data“ kann Gutes bewirken, aber zugleich als Druckmittel dienen, schon weil wenige US-Megakonzerne den Rest der Welt abgehängt zu haben scheinen.
Geschwächte Institutionen
In der Flüchtlingskrise wird überdeutlich, wie Gastgeber Ischinger sagt, dass alle großen EU-Projekte in Schönwetterzeiten entstanden seien, vom Schengen-System bis zum Euro. „Jetzt regnet es plötzlich so stark, dass Europa in den Grundfesten erschüttert wird“, so Ischinger. Der Zeitpunkt dafür könnte nicht ungünstiger sein, schließlich wollen die USA nur noch punktuell führen.
In der Weltpolitik ist ein Vakuum entstanden – das in der Münchener Ratlosigkeit Ausdruck fand, wer im verwirrenden Rennen um das Weiße Haus gewinnen könnte. Eine Folge dieses Vakuums: Globalisierung à la carte. Statt in der Welthandelsorganisation WTO multilateral zu verhandeln, schließen vor allem die Amerikaner mit ausgewählten Staaten Handelsabkommen ab, meist gegen China (auch in Europa würden die Amerikaner dies mit TTIP gerne tun, doch dort ist das Misstrauen gegen US-dominierten Freihandel ausgeprägt, was obige These vom drohenden Kampf aller gegen alle unterstreicht). Umgekehrt traut China bestehenden Institutionen nicht, also leistet es sich eine konkurrierende Investitionsbank und eine neue Seidenstraße.
Schlachtfeld IT
So wie die Hardware der globalen Institutionen Fehlermeldungen produziert, so birgt auch die Softwarerevolution der vergangenen Jahre Gefahren. Was uns – wie Facebook - zusammen bringen sollte, entfernt uns oft voneinander, schon weil diese Netzwerke es sich leicht machen, es sich in der eigenen Meinung bequem zu machen.
Bei den Münchner Cybergesprächen der Mächtigen war vor allem Unsicherheit zu spüren – darüber, dass die weltweite Ethik nicht mit dem rasanten Tempo der technologischen Entwicklung Schritt halten kann. „Wissen wir, was uns technologisch bevor steht“, so lautete zudem eine oft gestellte Frage- und die ehrliche Antwort lautete: Nein.
Zugleich verfestigen sich neue Gräben zwischen Nationen, etwa beim Cyberkrieg zwischen China und den USA der an einen Dialog unter Tauben erinnere, so Robin Niblett vom Chatham House. Während die Chinesen es als legitime politische Aufgabe ansehen, ihren Staat etwa durch IT-Datendiebstahl voran zu bringen, behandeln die Amerikaner solche Angriffe wie eine Kriegserklärung. Zugleich tut sich Europa nach wie vor schwer, eigene digitale Champions zu schaffen. In vielen Unternehmen des sonst so fortschrittlichen deutschen Mittelstandes gilt etwa derzeit noch als Digitalisierung, eine Webseite zu haben.
Globale (Un-)Gesundheit
In München ging es nicht nur um Gefahren auf Schlachtfeldern, entweder realen oder virtuellen. Auch der Zustand der Weltgesundheit stand auf der Agenda. Caroline Schmutte, Repräsentantin der Bill and Melinda Gates-Stiftung in Deutschland, erklärt den eher bedrohlichen Grund dafür: „Es schien sogar, dass manche Krankheiten, wie etwa die Pocken, ganz ausgelöscht worden seien. Doch wir müssen immer wieder feststellen, dass als besiegt geltende Krankheiten wieder aufflackern.
Hinzu kommen neue Pandemien wie die Vogelgrippe und aktuell das Zika-Virus, aggressivste Epidemien wie Ebola, aber auch zunehmende Resistenzen gegen Antibiotika und die Gefahr eines Bioterrorismus.“ Schmutte betont: Für jeden Dollar, der in Gesundheitsversorgung investiert wird, erhalte die Gesellschaft das neun- bis zwanzigfache an Wachstum zurück. Doch in den Nachwehen der Weltfinanzkrise und neuen Schuldenkrisen ist dafür in vielen Staaten kein Geld da.
Also lautet das Fazit aus München: Wir leben in verwirrenden, in irritierenden Zeiten – in der zudem noch die (globale) Flüchtlingskrise Bürger emotional ganz anders zu verunsichern droht als abstraktere Herausforderungen wie die Finanzkrise. Apropos: Während die Mächtigen in München tagten, musste Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Ringen um eine europäische Lösung in der Flüchtlingskrise einen weiteren Rückschlag hinnehmen. Frankreich erklärte, sich den von Merkel geforderten "Aufnahmekontingenten" für Flüchtlinge zu verweigern.