Überlebender Pilot Türkei hat Kampfjet vor Abschuss nicht gewarnt

Der überlebende Pilot des abgeschossenen russischen Kampfjets hat die Darstellung einer Warnung durch das türkische Militär zurückgewiesen. Die ohnehin schon große Spannung in der Region wächst.

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Abschuss eines russischen Kampfjets Quelle: dpa

Nach dem Abschuss eines russischen Militärflugzeugs im türkisch-syrischen Grenzgebiet hat sich die ohnehin schon gespannte Lage in der Region nochmals verschärft. Nun hat der überlebende Pilot des abgeschossenen russischen Kampfjets die Darstellung einer Warnung durch das türkische Militär zurückgewiesen. „Es gab keine Warnungen, nicht per Funk, nicht visuell, wir hatten überhaupt keinen Kontakt“, sagte Konstantin Murachtin der Agentur Interfax zufolge am Mittwoch. Die Türkei hatte mitgeteilt, die russische Suchoi Su-24 vor dem fatalen Raketentreffer mehrfach und über mehrere Minuten hinweg kontaktiert zu haben.

Die Rakete des türkischen F-16-Kampfflugzeugs sei plötzlich und unangekündigt von hinten eingeschlagen, sagte Murachtin. Ein Abwehrmanöver sei nicht möglich gewesen. Der Pilot wies zudem türkische Angaben zurück, wonach der russische Jet in den türkischen Luftraum eingedrungen sei. Dies schließe er aus, meinte Murachtin.

Nach russischer Darstellung wurde die Maschine am Dienstag über syrischem Gebiet abgeschossen. Berichten zufolge soll sie aber mehrere Sekunden lang im türkischen Luftraum gewesen sein. Einer der beiden Piloten kam bei dem Vorfall ums Leben.

Das Weiße Haus teilte mit, US-Präsident Barack Obama habe in einem Telefonat mit seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan gesagt, dass die Türkei aus Sicht der USA und der Nato das Recht habe, seine Souveränität zu verteidigen. Zugleich stimmten beide Politiker darin überein, dass die Lage nicht eskalieren dürfe. Es müssten Vorkehrungen getroffen werden, damit sich solch ein Vorfall nicht wiederhole.

Russland kritisierte die Haltung der Nato und schickt nun Luftabwehrraketen nach Syrien. Die Waffen würden auf dem Stützpunkt Hemeimim in einem von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiet stationiert, sagte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Mittwoch laut russischen Nachrichtenagenturen. Von hier aus fliege die Luftwaffe auch ihre Einsätze.

Nach Erkenntnissen der Nato dürfte die Darstellung Ankaras zutreffen, wonach das türkische Militär den Bomber vom Typ Suchoi Su-24 nach einer Verletzung des türkischen Flugraums beschoss. Moskau betonte, der Flieger habe für die Türkei keine Gefahr dargestellt und sei über syrischem Boden abgeschossen worden, womit sich die türkische Regierung zu „Helfershelfern von Terroristen“ gemacht habe. Die türkische Regierung betonte, die Grenzverteidigung sei „sowohl unser internationales Recht als auch unsere nationale Pflicht“.

Als Reaktion auf den Vorfall werden alle Luftwaffeneinsätze Russlands gegen die Terrormiliz IS in Syrien ab sofort von eigenen Kampfjets begleitet, wie der Generalstab in Moskau laut des staatlichen Nachrichtenportals „Sputniknews“ bekanntgab. Zuvor hätten Bomber keinen derartigen Schutz bekommen. Außerdem wurde der russische Raketenkreuzer „Moskwa“ demnach angewiesen, vor der syrischen Mittelmeerküste Position zu beziehen und alle Ziele zu vernichten, die Russlands Luftwaffe in dem Bürgerkriegsland gefährden könnten.

Russlands Nato-Botschafter Alexander Gruschko kritisierte nach der von Ankara beantragten Sondersitzung des Bündnisses am Dienstag, die Türkei sei für ihr Verhalten nicht verurteilt worden. Auch habe Moskau keine Beileidsnote nach dem Tod zweier Piloten erhalten.

Einer von ihnen saß nach russischen Angaben in dem abgeschossenen Bomber, der andere in einem Hubschrauber, der von syrischen Rebellen auf dem Weg zur Rettung der verunglückten Flugzeugbesatzung beschossen wurde. Das Schicksal des zweiten Suchoi-Piloten ist ungeklärt. Für Russlands Streitkräfte sind es die ersten offiziell bestätigten Verluste seit Beginn ihrer Intervention im syrischen Bürgerkrieg im September.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigte sich „äußerst besorgt“ nach dem Suchoi-Abschuss. „Der Generalsekretär ruft alle militärisch in der Region verwickelten Parteien auf, alle Maßnahmen darauf abzustimmen, ungewollte Konsequenzen zu vermeiden“, sagte sein Sprecher in New York. Das Pentagon teilte mit, der Zwischenfall habe derzeit keine Auswirkungen auf die Aktionen der US-Luftwaffe in Syrien. Französische Kampfjets griffen dort am Dienstagabend gemeinsam mit der US-Luftwaffe erneut IS-Ziele an.

„Der Abschuss ist ein schwerer Rückschlag“, sagte der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD), der „Huffington Post“. Einen Nato-Bündnisfall halte er jedoch „für unwahrscheinlich, weil eine Bewertung des Vorfalls im Moment unmöglich ist. Um alle Einzelheiten zu kennen, müssten beide Seiten Gespräche führen. Doch daran hat zumindest die türkische Seite im Moment kein Interesse.“

Zuvor hatte Vizekanzler Sigmar Gabriel Ankara kritisiert. „Erstmal zeigt der Zwischenfall, dass wir einen Spieler dabei haben, der nach Aussage von verschiedenen Teilen der Region unkalkulierbar ist: Das ist die Türkei und damit nicht die Russen“, sagte der SPD-Chef am Dienstag bei einer Konferenz der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Dass die Russen jetzt die Konfrontation auslösen durch die Verletzung des Luftraums, darf einen ja nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Türkei dort in diesem Konflikt eine schwierige Rolle spielt.“ Es sei „denkbar“, dass dadurch ein Schaden für die angestrebte Koalition gegen den IS unter Einbeziehung Russlands entstehe.

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