Wurden Erdogan und seine Regierung von dem Putschversuch überrascht?
Die politische Führung wusste, dass es eine gewisse Unzufriedenheit gab. Machttaktisch war es daher klug, die Putschisten gewähren zu lassen. So konnte die Regierung sehen, wer die Putschisten unterstützt. Ob sich Regierung und AKP darüber im Klaren waren, wie eng es werden würde, wissen nur sie selbst.
Manche sagen, der Putsch war absehbar. Andere sagen, er kam aus dem Nichts. Was stimmt?
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
2011 hatte sich der Generalstab Erdogans Willen gebeugt und trat zurück. Seitdem schien das Militär als politischer Akteur entmachtet zu sein. Dennoch gab es weiterhin Unzufriedenheit im Militär, wie wir jetzt sehen konnten. Insofern stimmt beides. Mit dem gescheiterten Putschversuch ist nun jedenfalls klar, dass das Militär keine politische Macht mehr ausüben kann.
Viele Türken sind gegen den Putsch auf die Straße gegangen. Wollten Sie die Demokratie oder Erdogan schützen?
Für AKP-Anhänger ist das ein und dasselbe. Aber es waren nicht nur Erdogan-Getreue auf der Straße, sondern auch Vertreter der Opposition. Was auch immer die jeweilige Motivlage war: Erdogan wird die symbolische Ressource nutzen, sich mit der demokratischen Volksmacht gegen, seiner Ansicht nach, undemokratische Akteure zu stellen.
Was wird Erdogan nun unternehmen?
Der Staatspräsident will dieses Momentum nutzen, um Türkei zu einem Präsidialsystem umzubauen. Wahrscheinlich wird er in einigen Wochen oder Monaten ein Referendum darüber abhalten. Wenn die Bevölkerung mit einer starken Mehrheit zustimmt, steigt der Druck auf die Oppositionsparteien, sich zu beugen und dem kollektiven Interesse zu dienen.
Und wenn sich die Opposition weigert?
Dann werden die AKP-Anhänger die Opposition als Landesverräter brandmarken.
Kann der Putschversuch die Demokratie auch stärken?
Erdogan hat in den vergangenen Jahren die Rechte der Opposition massiv beschnitten. Wenn er jetzt auf die Opposition zugeht und ihre Rechte achtet, kann das die Demokratie stärken. Nur sehe ich überhaupt keine Anzeichen dafür, dass sich der Staatspräsident neu erfinden will.