Nadia Sawtschenko „Wenn nichts passiert, wird meine Schwester sterben“

Seit Juni sitzt die ukrainische Hubschrauber-Pilotin Nadia Sawtschenko im russischen Gefängnis, der Vorwurf lautet auf Mord. In Kiew kämpfen ihre Mutter und Schwester um ihre Freilassung. Doch das könnte zu spät sein.

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Nadia Sawtschenko in Moskau: „Ich konnte sie nicht zurückhalten“ Quelle: action press

Kiew Es ist einer der ersten frühlingshaften Tage in Kiew am vergangenen Sonntag. Die kleine, leicht vorgebeugte Frau trägt dennoch ein wollendes, hellbraunes Kopftuch und einen dunkelblauen Wintermantel. Beim Gottesdienst wischt sie sich immer wieder Tränen aus den Augen. Maria Sawtschenko hofft, dass sie ihre Tochter Nadia lebend wiedersieht.

Wenn man den Aussagen von Ärzten und Rechtsanwälten Glauben schenken darf, hängt das Leben der ukrainischen Kampfpilotin Nadia Sawtschenko am seidenen Faden. Die 33-Jährige befindet sich seit 80 Tagen im Hungerstreik. Damit protestiert sie für ihre Freilassung aus russischer Untersuchungshaft.

Russland wirft Sawtschenko vor, der ukrainischen Armee die Position zweier russischer Journalisten übermittelt zu haben, die im Juni nahe der ostukrainischen Separatistenhochburg Lugansk bei einem Angriff der ukrainischen Regierungstruppen getötet wurden. Die Anklage lautet auf vorsätzlichen Mord. Die Pilotin weist die Vorwürfe zurück. Sie gibt an, widerrechtlich entführt und nach Russland verschleppt worden zu sein.

Seit 13. Dezember ist die 33-Jährige im Hungerstreik, inzwischen lehnt sie auch die Einnahme von Traubenzuckerlösungen ab. Die EU-Vertretung in Moskau hatte am Donnerstag Sawtschenkos Freilassung aus humanitären Gründen verlangt. Mitte Juni 2014 geriet Sawtschenko bei einem Einsatz im ost-ukrainischen Lugansk in Gefangenschaft. Seit Anfang Juli befindet sich die Berufssoldatin in russischer Haft, anfangs in einem Gefängnis in Woronesch.

Seitdem Nadia Sawtschenko im vergangenen Sommer während eines Kampfeinsatzes in der Ost-Ukraine den russischen Behörden in die Hände fiel, kämpfen ihre 77 Jahre alte Mutter und ihre 31-Jährige Schwester Vera für sie.

Die beiden Frauen haben alles getan, damit die große Schwester wieder nach Hause zurückkehren kann. Im vergangenen Juli wandte sich Vera, die als Architektin in Kiew arbeitet, an den damals frisch ins Amt gekommenen ukrainischen Außenminister Pawlo Klimkin. Der Diplomat hatte bis dahin als Botschafter seines Landes in Berlin gearbeitet und gilt in der Ukraine als im Westen gut vernetzt und moderner Politiker europäischen Stils.

In heller Sommerbluse und weißen Jeans besucht Vera Sawtschenko Klimkin in seinem Amtssitz im Zentrum Kiews. „Anfangs dachte ich, meine Mutter bräuchte sich dem Stress öffentlicher Auftritte nicht anzutun“, sagte Vera vor einigen Monaten zu ukrainischen Journalisten. Doch es kam anders.

„Ich muss für meine Tochter kämpfen“, erklärte Maria Sawtschenko in ihrem ersten Interview im vergangenen Sommer. Das ist lange her. Seitdem hat sie Briefe an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Russlands Präsidenten Wladimir Putin geschrieben. Sie hat ihre Tochter Nadia in Moskau im Gefängnis besucht. Und unzählige Pressekonferenzen gegeben.


Keine Regung bleibt unbeobachtet

An diesem Sonntag steht die 77-Jährige Maria Sawtschenko wieder auf einer Kundgebung. Ihre Tochter Nadia ist seit vergangenem Herbst Parlamentsabgeordnete der Vaterlandspartei von Julia Timoschenko, der früheren Ministerpräsidentin der Ukraine. Unter dem Motto: „Freiheit für Nadia“ hat die Partei zu einem interreligiösen Gottesdienst unter freiem Himmel eingeladen. Von Beginn an ist Maria Sawtschenko von TV-Kameras und Fotografen umringt. Keine ihrer Regungen bleibt unbeobachtet.

Geduldig lässt sie das alles mit sich geschehen. Aus dem, was von ihrer Biografie bekannt ist und von was sie selber erzählt, geht hervor, dass sie es oft nicht leicht hatte. 1938 zur Welt gekommen, erlebt sie in ihrer Kindheit vor allem Krieg und Not. „Wir sind mit unseren Eltern zum Überleben in die Kiewer Wälder gegangen, weil unsere Stadt so sehr beschossen wurde“, erinnert sich Maria Sawtschenko. Nachdem sie ihre Eltern versorgt hatte, hat sie erst mit 42 Jahren geheiratet und ihre eigene Familie gegründet, berichtete sie der Tageszeitung „Den“.

Ihre beiden Töchter, Berufssoldatin Nadia und Architektin Vera, sollten „so selbstständig wie möglich erzogen werden“, sagt sie dem Handelsblatt (Online-Ausgabe). In ihrem kleinen Haus bei Kiew haben die drei Frauen nach dem Tod des Vaters in einer „guten und harmonischen Gemeinschaft gelebt“, umschreibt sie ihre Beziehung zu den beiden Mädchen. Nadia habe zwar einen „Männerberuf“ ausgeübt, „doch mir als Mutter war wichtig, dass sie bei allem, was sie tut, ehrlich und konsequent vorgeht“, berichtet die alte Frau.

Als im vergangenen Winter die pro-westlichen Proteste in der Kiewer Innenstadt ihren Anfang nahmen, gingen ihre Töchter auf die Kundgebungen. Später engagierten sich Vera und Nadia als freiwillige Helfer. Nadia, die auch über eine Nahkampfausbildung verfügt, schloss sich zeitweise dem Sicherheitsschutz des Maidans an. Ende Januar verwandelte sich das kleine Haus der Familie am Stadtrand von Kiew in ein „Mini-Lazarett“, beschreibt Maria die Situation von vor etwas mehr als einem Jahr. „Nadia brachte Freunde mit nach Hause, die verletzt waren, aber aus Angst vor Verhaftungen nicht in die staatlichen Krankenhäuser gehen wollten.“


„Ich konnte sie nicht zurückhalten“

Wenn Maria Sawtschenko auf den 20. Mai 2014 zurückschaut, wird sie nachdenklich. Sie habe noch versucht, ihre Tochter davon abzuhalten, sich von ihrer Fliegerstaffel im westukrainischen Lwiw zu verabschieden und zusammen mit den Kämpfern des Freiwilligen-Bataillons Aidar in die Ost-Ukraine aufzubrechen. „Doch ich konnte sie nicht zurückhalten“, erinnert sich Maria. Das Bataillon Aidar, dem auch rechtsextreme Kämpfer angehören, spielt im Konflikt eine umstrittene Rolle: Im vergangenen Jahr warf Amnesty International der Truppe Kriegsverbrechen in der Region Lugansk vor.

Seit einer Woche scheint sich unterdessen der Gesundheitszustand von Nadia Sawtschenko dramatisch zu verschlechtern. An diesem Montag hatte ein internationales Ärzte-Team die Soldatin untersucht und bekanntgegeben, wenn Sawtschenko den Hungerstreik nicht sofort beende, droht Ende dieser Woche ein multiples Organversagen und Koma.

Mutter Maria Sawtschenko ist angesichts dieser Lage verzweifelt. Am Ende des Gottesdienstes kann sie ihre Tränen nicht zurückhalten und weint. Auch Tochter Vera, die neben ihrer Mutter stand und die blau-gelbe Landesflagge der Ukraine über ihren Schultern trug, macht ein sorgenvolles Gesicht. Obwohl von einer Menschenmenge umringt, wirken die beiden Frauen verlassen.

„Meine Schwester hat mehr als 25 Kilogramm verloren, sie liegt während der meisten Zeit des Tages. Außer zwei Tassen stark gesüßten Kaffees und Wasser nimmt sie nichts mehr zu sich“, sagte Vera Sawtschenko dem Handelsblatt. Sie hat ihre Schwester zuletzt Ende Januar in der Haft in Moskau besucht. Dann spricht sie aus, was viele in der Ukraine befürchten: „Wenn sich jetzt nichts ändert, wird meine Schwester sterben.“

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