Nahost-Experte Bassam Tibi Es gibt keine Lösung für den Syrien-Krieg

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Die Syrien-Politik der Bundeskanzlerin

Für mich als nahöstlicher Politikwissenschaftler gibt es keinen Unterschied zwischen Bush und Obama, was Gewalt angeht. Der Witz ist jedoch, dass Obama, obwohl Krieger, als Friedensnobelpreisträger gefeiert wird. Er spricht vom Frieden und lässt Tausende Menschen ermorden. Das ist eine auf den Kopf gestellte Welt.

Ein weiterer Witz ist die Syrien-Politik der Bundeskanzlerin: Einerseits erkennt sie richtig, dass ein Zusammenhang zwischen dem Krieg in Syrien und der millionenstarken Zuwanderung nach Deutschland besteht. Doch man kann nur den Kopf schütteln, wenn sie den Zuwanderungsstrom über die Bekämpfung der Fluchtursachen, d.h. den Syrien-Krieg, beenden will. In Syrien und Libyen sind diese Ursachen Staatszerfall und irregulärer Krieg, beide eingebettet in einen protracted conflict.

Westliche Medien und Politiker sprechen vom Blutvergießen in Syrien als einem Bürgerkrieg. Das ist falsch, weil der Krieg in Syrien kein Kampf unter Bürgern, sondern zwischen religiös-sektiererischen Kollektiven ist. Der Syrien-Krieg ist nur einer von dutzenden Konflikten, die die „globale Flüchtlingskrise“ verursacht haben. Ein vergleichbarer Staatszerfall ist in Libyen zu beobachten, von wo die Völkerwanderung aus Afrika nach Europa stattfindet. Dort gibt es kein Staatsvolk, sondern dutzende Stämme, jeder mit eigener bewaffneter Miliz.  Keine staatliche Instanz hat mehr Autorität über das gesamte Territorium.

Zur Lösung eines solchen protracted conflict gehört es, die lokale und regionale Dynamik in den Griff zu bekommen. Dies kann jedoch keiner der Akteure leisten. Von außen lässt sich der Konflikt nicht lösen. Die Einmischung der USA und Russlands durch Bombardierungen dramatisiert noch die menschliche Tragödie und nährt den Hass der Bevölkerung auf beide Länder.  

Auch die EU scheint unfähig, sowohl mit dem Syrien-Konflikt als auch mit der globalen Flüchtlingskrise umzugehen. Die EU kann Beleuchtungsmittel regulieren, versagt aber, wenn es um Außen-, Sicherheits-, Finanz- und Migrationspolitik geht. Für die Regulierung der demografischen Lawinen aus Nahost und Afrika hat sie kaum mehr als hohle Sprüche wie Merkels: „Wir schaffen das“. Syriens Wohnbevölkerung wuchs von 3-4 Mio. um 1950 bis auf rund 20 Millionen an. Nebeneffekt der demografischen Explosion ist ein „youth bulge“, also ein übermäßig großer Anteil der Jugend. Diese jungen Männer – nicht Frauen – kommen heute nach Deutschland und maskulinisieren die deutsche Gesellschaft.

Der Staatszerfall in Syrien und Libyen ist die Hauptfluchtursache. Sie kann nur durch Herstellung staatlicher Ordnung behoben werden. Es werden jedoch Jahre vergehen, bis dass absehbar ist. 

Er hängt mit der Entstehung der alawitischen Alleinherrschaft seit dem Assad-Putsch von 1970 zusammen. Alawiten sind eine ländliche schiitische Sekte, die zutiefst gegen die sunnitische urbane Bevölkerung gesinnt ist. Wer das nicht weiß, kann nicht begreifen, wie alawitische Luftwaffen-Piloten es fertigbringen, Tausende von sunnitischen Zivilisten in ihren Wohngegenden zu ermorden. Diese Mörder kennen keine religiöse Toleranz.

Seit 1970 wurde die Zuwanderung von Alawiten aus nordsyrischen Dörfern in alle Großstädte forciert. Alawitische Offiziere haben den Platz des sunnitischen Großbürgertums von Damaskus und Aleppo buchstäblich eingenommen. Sunnitische Damaszener und Aleppiner wurden sozial und politisch marginalisiert. Das ist der Kern des Konflikts. 

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