Als Frank-Walter Steinmeier im August beim Diner Républicain in Ascona den „Preis für politische Kultur in Europa“ erhielt, hatte ich eine doppelte Ehre: erstmals dabei sein zu dürfen und dann vom Preisträger persönlich angesprochen zu werden. Der deutsche Außenminister ist in seiner Ehrlichkeit eine Seltenheit unter deutschen Politikern. Er fragte mich nach einer Perspektive für ein Ende des Blutvergießens in meinem Heimatland Syrien. Seit dem Aufstand 2011 der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit (75 Prozent) gegen die Herrschaft der schiitischen Alawiten (10 Prozent) sind mehr als eine halbe Million Menschen umgekommen.
Rund 12 Millionen Syrer befinden sich auf der Flucht - innerhalb des Landes, im Nahen Osten und in Europa, insbesondere Deutschland. Ich erklärte dem Außenminister die sehr komplexen Zusammenhänge und fügte hinzu, dass es zurzeit keine Lösung gebe, weil es ein protracted conflict sei. Steinmeier wollte dies nicht akzeptieren und lud mich unverbindlich nach Berlin ein.
Zur Person
Bassam Tibi , 72, ist gebürtiger Syrer, der einer der ältesten Notabelnfamilien, den Banu al-Tibi, in Damaskus entstammt. Er lehrte 37 Jahre lang als Professor an der Uni Göttingen und nahm parallel dazu 18 Gastprofessuren im Nahen Osten, Südostasien, Westafrika sowie u.a. in Harvard, Berkeley und Cornell wahr. Der Autor von 30 Büchern in deutscher und 11 Büchern in englischer Sprache über Islamismus, Islam und Nahost ist der Begründer der Wissenschaft der Islamologie und Vertreter des Euro-Islam. Zuletzt erschienen: Europa ohne Identität? Europäisierung oder Islamisierung
Ein protracted conflict – der Begriff ist nicht ins Deutsche übersetzbar – ist ein unlösbarer Konflikt. Für Bundeskanzlerin Merkel heißt das: Ihre Politik des Kurierens von Fluchtursachen wird erfolglos bleiben.
Als Professor für Internationale Beziehungen habe ich an Universitäten auf vier Kontinenten gelehrt und die Unterscheidung zwischen lösbaren und nichtlösbaren Konflikten gelernt. Die Lösung von Konflikten kann militärisch - der Sieger diktiert dem Verlierer eine Lösung – oder durch Verhandlungen erfolgen. In beiden Fällen ist die Grundvoraussetzung nicht nur das Vorhandensein klarer Fronten zwischen klar definierten Akteuren, sondern auch eine Messung ihrer Stärke. Bei einer Diffusion der Macht, so wie in Syrien der Fall, ist dies nicht möglich.
Nur die Staatsfront ist in Syrien klar definiert: die Alawiten besitzen ein Monopol sowohl des politischen Apparates als auch der militärischen Macht. Die Armee, Luftwaffe, Geheimdienste und Polizei werden von alawitischen Offizieren dominiert. Die Opposition hat dagegen nur irreguläre Djihadisten. Es gibt drei große sunnitische militärische Akteure, zwei davon islamistisch: IS und Jabhat Fatah al-Sham (früher al-Nusra). Die dritte, die Freie syrische Armee, ist nur islamisch. Aber dazu kommen noch mindestens 105 unüberschaubare Milizen aller Couleurs. Das einzige, worüber diese Partisanen sich einig sind, ist das Ziel: „Weg mit den Alawiten.“
Obwohl ich Gegner des irregulären Krieges des Djihadismus bin, lehne ich den amerikanischen und europäischen Jargon für die islamistischen Krieger - „Terroristen“ – ab. Denn Terror verübt auch die syrisch-alawitische Luftwaffe, die völkerrechtswidrig die Zivilbevölkerung bombardiert. Die Alawiten befürchten zu Recht eine sunnitische Kollektivrache und deswegen würden sie, wie ein CIA-Mann im Nachrichtensender CNN sagte, „to the last man“ kämpfen. Wie kann es in einem solchen Dickicht eine Lösung geben?
Die Akteure im Syrien-Konflikt
Anhänger von Präsident Baschar al-Assad kontrollieren weiter die meisten großen Städte wie Damaskus, Homs, Teile Aleppos sowie den Küstenstreifen. Syriens Armee hat im langen Krieg sehr gelitten, konnte aber infolge der russischen Luftunterstützung seit September 2015 wieder Landgewinne verzeichnen. Machthaber Assad lehnt einen Rücktritt ab.
Die Terrormiliz beherrscht im Norden und Osten riesige Gebiete, die allerdings meist nur spärlich besiedelt sind. Durch alliierte Luftschläge und kurdische Milizen mussten die Islamisten im Norden Syriens mehrere Niederlagen einstecken. Unter der Herrschaft der Miliz, die auch im Irak große Gebiete kontrolliert, verbleibt die inoffizielle Hauptstadt Raqqa, die bedeutende Versorgungsstrecke entlang des Euphrat und ein kleiner Grenzübergang zur Türkei. Offiziell lehnen alle lokalen und internationalen Akteure den IS ab.
Sie sind vor allem im Nordwesten und Süden Syriens stark. Ihr Spektrum reicht von moderaten Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten.
Die zu Beginn des Kriegs bedeutende Freie Syrische Armee (FSA) hat stark an Einfluss verloren. Sie kämpft vor allem gegen Diktator Assad.
In der „Islamischen Front“ haben sich islamistische Rebellengruppen zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist der Sturz Assads und die Errichtung eines „Islamischen Staates“ – die gleichnamige Terrormiliz lehnen sie jedoch ab. Sie werden von Saudi-Arabien unterstützt und sind ideologisch mit al-Qaida zu vergleichen. Militärisch untersteht ihr auch die „Dschaisch al-Fatah“, die von der Türkei unterstützt wird. Teilweise kooperieren sie mit der al-Nusra-Front, Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida.
Sie ist zersplittert. Das wichtigste Oppositionsbündnis ist die Syrische Nationalkoalition in Istanbul. Diese wird von zahlreichen Staaten als legitim anerkannt, von vielen lokalen Akteuren wie al-Nusra oder der kurdischen PYD jedoch abgelehnt.
In Damaskus sitzen zudem Oppositionsparteien, die vom Regime geduldet werden. Bei einer Konferenz in Riad einigten sich verschiedenen Gruppen auf die Bildung eines Hohen Komitees für Verhandlungen, dem aber einige prominente Vertreter der Opposition nicht angehören.
Kurdische Streitkräfte kontrollieren mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei: Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS.
Dabei kämpfen sie teilweise mit Rebellen zusammen, kooperieren aber auch mit dem Regime. Führende Kraft sind die „Volksverteidigungseinheiten“ YPG der Kurden-Partei PYD, inoffizieller Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese streben einen eigenen kurdischen Staat an – die Türkei lehnt das vehement ab.
Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Beteiligt sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Deutschland stellt sechs Tornados für Aufklärungsflüge über Syrien, ein Flugzeug zur Luftbetankung sowie die Fregatte „Augsburg“, die im Persischen Golf einen Flugzeugträger schützt. Washington unterstützt moderate Regimegegner.
Die Türkei setzt sich für den Sturz Assads ein und unterstützt seit langem Rebellengruppen wie die islamistische Dschaisch al-Fatah. Neben der Sicherung ihrer 900 Kilometer langen Grenze ist die Türkei seit August 2016 auch mit Bodentruppen in Syrien vertreten. Ziel ist neben der Vergeltung für Terroranschläge des IS auch, ein geeintes Kurdengebiet im Norden Syriens zu verhindern.
Der Abschuss eines russischen Flugzeugs über türkischem Luftraum im November 2015 führte zu Spannungen zwischen Russland und der Türkei.
Seit September 2015 fliegt auch Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien. Moskau ist einer der wichtigsten Unterstützer des syrischen Regimes: Rebellenorganisationen werden pauschal als „Terroristen“ bezeichnet und aus der Luft bekämpft. Der Kampf gegen islamistische Rebellen soll auch ein Zeichen an Separatisten im eigenen Land senden.
Geostrategisch möchte Russland seinen Zugriff auf den Mittelmeerhafen Tartus nicht verlieren.
Teheran ist der treueste Unterstützer des Assad-Regimes, auch aus konfessionellen Gründen. Iraner kämpfen an der Seite der syrischen Soldaten. Die von Teheran finanzierte Schiitenmiliz Hisbollah ist ebenfalls in Syrien im Einsatz. Sie fürchten die Unterdrückung der schiitischen Minderheit im Falle eines Sieges sunnitischer Rebellen, aber auch den Verlust von regionalem Einfluss.
Riad ist ein wichtiger Unterstützer vornehmlich islamistischer Rebellen. Sie fordern, dass Assad abtritt. Saudi-Arabien geht es auch darum, den iranischen Einfluss zurückzudrängen. Der Iran ist der saudische Erzrivale im Nahen Osten.
Trotz religiöser Ähnlichkeiten zwischen IS und dem saudischen Wahabismus engagiert sich Saudi-Arabien im Kampf gegen den IS.
Die innersyrische Lage wird noch durch die Einmischung externer Akteure - regionale und internationale - erheblich kompliziert. Als Syrer ärgert mich das dumme Geschwätz westlicher „Experten“ von einem „Stellvertreterkrieg“. Weder sind die schiitischen Alawiten ein Proxy von Iran, noch sind die Sunniten ein Proxy von Saudi-Arabien und Katar. Richtig ist, dass diese Staaten und die Türkei sich einmischen, aber sie verursachen den Konflikt nicht.
Noch komplizierter wird es dadurch, dass die Djihadisten als irreguläre Akteure einen „irregular war“ führen – und nicht alle Syrer sind. Unter ihnen sind nichtarabische Muslime, z.B. Tschetschenen, und arabische Nordafrikaner auf der sunnitischen Seite und irreguläre Schiiten, z.B. die Hisbollah, bei den Alawiten.