Nazi-Vorwürfe „Ungeheuerliche Entgleisung“ – Scharfe Kritik an Erdogan

Die umstrittenen Äußerungen des türkischen Präsidenten Erdogan zur Nazi-Zeit rufen Empörung in der deutschen Politik hervor. Lässt sich das zerrüttete Verhältnis zwischen Berlin und Ankara kurzfristig kitten?

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„Eure Praktiken machen keinen Unterschied zu den Nazi-Praktiken in der Vergangenheit“ – In Berlin gibt es heftige Kritik nach den Vorwürfen Erdogans. Quelle: dpa

Istanbul/Berlin Nach provokanten Nazi-Vergleichen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan empören sich deutsche Politiker und pochen auf eine Entschuldigung. Erdogans Äußerungen seien „infam, abstrus, inakzeptabel und aufs Schärfste zurückzuweisen“, sagte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) am Sonntagabend in der ARD-Sendung „Anne Will“. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sprach in der der „Passauer Neuen Presse“ (Montag) von einer „ungeheuerlichen Entgleisung des Despoten vom Bosporus“ und verlangte eine Entschuldigung.

In den vergangenen Tagen hatten deutsche Kommunen und Veranstalter mehrere Wahlkampfauftritte türkischer Minister abgesagt - hauptsächlich wegen Sicherheitsbedenken. Dazu sagte Erdogan am Sonntag: „Eure Praktiken machen keinen Unterschied zu den Nazi-Praktiken in der Vergangenheit.“

Stunden später legte der konservative Politiker mit einer weiteren Bemerkung sogar noch nach. „Ich habe gedacht, der Nationalsozialismus in Deutschland ist vorbei, aber er geht noch immer weiter“, sagte er am Abend in Istanbul nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Zu Berichten, dass er einen Auftritt in Deutschland plane, sagte Erdogan Anadolu zufolge: „Wenn ich will, komme ich morgen. Ich komme, und wenn ihr mich nicht hereinlasst oder mich nicht sprechen lasst, dann werde ich einen Aufstand machen.“

Die Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen sagte in der ARD, Erdogan betreibe eine Verharmlosung des Faschismus. „Wenn etwas hier irgendwie an den früheren Faschismus erinnert, dann ist das doch die Methode Erdogans: Nämlich Journalisten, Presse und auch die Opposition auszuschalten, seine Gewaltpolitik und gleichzeitig auch die Säuberung des Staatsapparates und seine Hetztiraden.“ Die Bundesregierung müsse endlich „eine rote Linie ziehen“.

Erdogan strebt ein Präsidialsystem an, das ihm deutlich mehr Macht verleihen und das Parlament schwächen würde. An der Volksabstimmung dazu am 16. April können auch im Ausland lebende wahlberechtigte Türken teilnehmen, darunter rund 1,41 Millionen in Deutschland.

Fraktionschef Volker Kauder (CDU) wies am Sonntagabend ebenfalls im ARD-„Bericht aus Berlin“ die Äußerungen Erdogans zurück. „Das ist ein unglaublicher und nicht akzeptabler Vorgang, dass der Präsident eines Nato-Mitgliedes sich so über ein anderes Mitglied äußert. Und vor allem einer, der mit dem Rechtsstaat ja erhebliche Probleme hat.“ CDU-Vize Julia Klöckner schrieb auf Twitter über Erdogan: „Unverschämt, geschichtsvergessen, anmaßend!“

Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei, sagte der „Welt“, ein gemeinsames Vorgehen der EU wäre jetzt wichtig. Dazu zählten ein Stopp der Waffenexporte und ein Einfrieren der gewährten EU-Hilfen. Zudem müsse Deutschland sofort die Bundeswehr vom türkischen Standort Incirlik abziehen. Von dort beteiligt sich Deutschland mit „Tornado“-Aufklärungsflügen über Syrien und dem Irak an der internationalen Koalition gegen die IS-Terrororganisation.

Erdogan konterkarierte mit seinen Äußerungen auch Bemühungen um eine Verständigung zwischen Ankara und Berlin. Ministerpräsident Binali Yildirim sprach am Samstag in einem einstündigen Telefonat mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auch über die Wahlkampfauftritte, wie Anadolu meldete. Die Türkei werde ihre „Taktik beim Wahlprogramm etwas ändern“, sagte Yildirim demnach.

In dieser Woche will sich Außenminister Mevlüt Cavusoglu mit seinem deutschen Kollegen Sigmar Gabriel treffen. Der SPD-Politiker warnte vor einer weiteren Eskalation. „Wir dürfen das Fundament der Freundschaft zwischen unseren Ländern nicht kaputt machen lassen“, schrieb er in der „Bild am Sonntag“. Justizminister Maas äußerte sich am späten Abend via Twitter ähnlich: Man werde weiter sehr klar Rechtsstaatlichkeit anmahnen und jegliche „Überdrehung“ zurückweisen. „Aber nur im Dialog können wir was erreichen.“

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