Inzwischen aber hat sich die Stoßrichtung der saudischen Ölpolitik verschoben. Es geht eben nicht mehr nur gegen die amerikanischen Fracking-Investoren, sondern vor allem gegen den Wandel der Energiepolitik in den Industriestaaten: gegen die Dekarbonisierung, gegen den Abschied von den potenziell klimaschädlichen Energieträgern.
„Naimi sorgt sich seit Jahren, dass Klimawandel und hohe Rohölpreise für viel mehr Energieeffizienz sorgen und den Wandel zu neuen Energieträgern auch in den Schwellenländern beschleunigen“, sagt der amerikanische Energieexperte Peter Waldman. Naimi hat den neuen starken Mann am saudischen Königshof, Vize-Kronprinz Mohammed, davon überzeugt, dass nichts für die Saudis gefährlicher wäre als ein Ende oder auch nur ein rapider Rückgang der internationalen Ölnachfrage, während unter dem Wüstensand noch unverkäufliches Rohöl in rauen Mengen lagert. Der 29-jährige Königssohn Mohammed, der im Gegensatz zu vielen anderen saudischen Prinzen keine Auslandserfahrung hat, hält nichts von Rücksicht auf westliche Verbündete. Er betreibt die Energiepolitik ähnlich rücksichtslos und energisch wie den Krieg im Jemen, den er als Oberbefehlshaber führt.
Der Prinz, der als möglicher Herrscher in 40 Jahren noch viel jünger wäre als sein Vater heute, will nicht als König über ein verarmtes Land mit Unmengen eines dann überflüssigen Rohstoffes im Erdboden regieren. Also lässt er die staatliche Ölgesellschaft Aramco mit Preisnachlässen immer mehr verkaufen. „Alles muss raus“ ist die unausgesprochene Devise der saudischen Ölpolitik – unausgesprochen, denn der Preis soll nicht noch schneller sinken als derzeit. Selbst die immens reichen Saudis müssen aufs Geld achten: Dass sie jetzt erstmals seit Jahren Staatsanleihen ausgeben wollen, und zwar gleich über 27 Milliarden Dollar, ist durchaus ein Krisenzeichen. Doch die Strategie des billigen Ausverkaufs wird weitergehen.
Denn in den USA bleibt der noch vor wenigen Monaten prognostizierte Zusammenbruch der Fracking-Industrie bislang aus. So waren es gerade Nachrichten aus Amerika, die im Juli einen erneuten Sturz des Weltmarktpreises auslösten: In Cushing im Bundesstaat Oklahoma, Standort der größten Rohölspeicher im Land, lag die gemessene Vorratsmenge auf einmal ganz überraschend um mehr als zwei Millionen Barrel über den Schätzungen. Die Nachricht aus der tiefsten amerikanischen Provinz erschütterte die Erwartungen der Händler in New York und London. Sie hatten mit dem Gegenteil gerechnet, weil wegen des gesunkenen Preises viele neue Bohrungen gestoppt, etliche Förderanlagen abmontiert und mehr als 100.000 Mitarbeiter der Branche entlassen worden waren.
Wachsende Erfahrungen mit der Fracking-Technik und bessere Fördermethoden lassen die Förderkosten in den USA aber ständig sinken. Galt noch vor einigen Monaten Fracking in den USA als unprofitabel, wenn der Ölpreis unter 75 Dollar notiert, liegt die Grenze derzeit eher bei 60 Dollar. Und die Effizienz lässt sich noch lange steigern. Mit der neuen Methode des Refracking lassen sich alte Ölquellen erneut anzapfen – dann fließt das Öl zu Produktionskosten so niedrig wie sonst nur auf der Arabischen Halbinsel.
Für die amerikanische Konjunktur ist der niedrige Ölpreis auf jeden Fall ein Gewinn. Die amerikanischen Konsumenten nutzen die finanzielle Entlastung an der Zapfsäule dazu, ihre notorisch hohen Schulden abzutragen. Wenn das geschieht, „können die USA wieder die Rolle der globalen Konjunkturlok übernehmen“, sagt Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Deka-Bank. Für die Weltwirtschaft ist das billige Öl darum insgesamt positiv – bei allen Problemen für Länder wie für Unternehmen, deren Wohlergehen ganz auf dem jetzt so billigen Rohstoff beruht.
Besonders schwer tun sich die Ölmultis mit der Anpassung an die niedrigen Preise – und vielleicht noch schwerer, Hoffnung auf bessere Zeiten zu verbreiten. Shell-Chef van Beurden sagt zwar: „Ich kann Ihnen versichern, dass wir noch weitere Pfeile im Köcher haben.“ Aber was sind das für Pfeile? Shell will 6500 seiner 94.000 Arbeitsplätze abbauen, das ist Teil eines zehnprozentigen Kostensparprogramms in Höhe von vier Milliarden Dollar im laufenden Geschäftsjahr. Bis 2018 will der Konzern Vermögenswerte im Wert von 30 Milliarden Dollar veräußern, nach Verkäufen in Höhe von rund 20 Milliarden Dollar in den vergangenen anderthalb Jahren. Auch hier heißt die Devise „Alles muss raus“: Shell reduziert seine Investitionen 2015 im Vergleich zum Vorjahr von 37 auf 30 Milliarden Dollar. Mithilfe der Übernahme des britischen Konzerns BG will Shell stärker als bisher vom Öl- zum Gasproduzenten werden und auch so widerstandsfähiger gegen Ölpreisschocks werden.
Konkurrent BP hat schon vor Monaten begonnen, die Weichen für eine längere Schwächephase zu stellen – es geht vor allem um den Verkauf von Vermögenswerten in zweistelliger Milliardenhöhe. Im ersten Halbjahr 2015 wurden die Kosten gegenüber dem Vorjahr bereits um 1,7 Milliarden Dollar gesenkt, die Investitionen gegenüber 2014 um drei Milliarden auf 20 Milliarden Dollar zurückgefahren.