Ölpreis Warum Öl zur Ramschware wird - und die Weltwirtschaft verändert

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Scheinbare und echte Profiteure sinkender Ölpreise

Und Deutschlands Chemieindustrie teilt sich in scheinbare und echte Profiteure sinkender Ölpreise. Ihr wichtigster Sprecher gibt sich vorsichtig: Kurt Bock, Vorstandsvorsitzender der BASF SE, meint, „im Augenblick“ sehe es nicht danach aus, dass der Ölpreis steigen würde. „Mittel- oder langfristig allerdings“ könne Erdöl aber wieder teurer werden.

Die Branche benötigt jedes Jahr mehr als 16 Millionen Tonnen Rohbenzin, was einem Siebtel des gesamten Erdölverbrauchs in Deutschland entspricht. 2013 gab die Chemieindustrie dafür noch rund elf Milliarden Euro aus. „Würde der Preis in diesem Jahr dauerhaft unterhalb 60 Dollar je Barrel verharren, könnte die Ölrechnung um vier Milliarden Euro gegenüber 2014 sinken“, rechnet Utz Tillmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie, vor. „Die eingesparten Milliardenbeträge erhöhen jedoch nicht die Gewinne der Unternehmen“, sagt Tillmann, denn wegen des starken Wettbewerbs müssten sie ihre Ersparnisse vollständig an ihre Kunden weiterreichen.

Die echten Nutznießer sind dagegen Firmen, die diese Stoffe zu Fein- oder Spezialchemikalien weiterverarbeiten: „Unternehmen, die etwa Klebstoffe oder Pflanzenschutzmittel produzieren, müssen in der Regel keine Preisnachlässe geben“, sagt Wolfgang Falter, Ölexperte der Unternehmensberatung Alix Partner. Auch ausländische Chemiefabrikanten sehen sich in dieser glücklichen Lage: „Da wir anspruchsvolle Produkte liefern, müssen wir die gesunkenen Kosten nicht an die Kunden weitergeben“, sagt Hariolf Kottmann, Konzernchef des schweizerischen Spezialchemiekonzerns Clariant.

Auch Fluglinien profitieren wie wenige von niedrigen Ölpreisen – doch nicht jedes Unternehmen hat etwas davon. Bis zu 30 Prozent ihrer Ausgaben fließen derzeit in den Sprit. Bei Billigfluglinien sind es sogar gut 40 Prozent, weil sie weniger für andere Dinge wie Personal ausgeben und meist neuere, sparsamere Maschinen fliegen. Weil sich die Flugdiscounter oft auch die Kosten für Sicherungsgeschäfte gegen steigende Ölpreise („Hedging“) sparen, kommen die niedrigeren Tankausgaben in höherem Maß bei ihnen an als bei den etablierten Linien wie der Lufthansa. Andere Airlines können jetzt die Preise stark senken, allen voran Billigflieger wie Ryanair oder Easyjet – da muss die Lufthansa teilweise mitziehen. Die Situation könnte sich weiter verschärfen: „Erfahrungsgemäß führen sinkende Ölpreise dazu, dass die Airlines ihre Kapazitäten ausbauen“, sagt ein Lufthansa-Manager. „Das ist gerade für den europäischen Markt, der ohnehin schon große Überkapazitäten hat, alles andere als sinnvoll.“

Air France hat den Kauf von zehn Boeing 777 verschoben, weil es nun nicht mehr so sehr ins Gewicht fällt, dass neue Maschinen weniger Kerosin verbrauchen als die alten. Auch Lufthansa Cargo schiebt die Beschaffung neuer Boeing-Maschinen jetzt auf.

Aber verblassen solche Sorgen einzelner Branchen nicht angesichts des Nutzens niedrigerer Benzin- und Heizölpreise für die deutsche Volkswirtschaft und die deutschen Verbraucher? Was der Bürger an der Tankstelle oder beim Heizölhändler spart, kann er anderswo konsumieren. Nach Berechnungen der DekaBank dürfte die Ölpreisentwicklung für Deutschland in diesem und im kommenden Jahr jeweils einen zusätzlichen Wachstumsschub von 0,4 Prozentpunkten bedeuten.

Was aber die Konsumenten freut, wird den Währungshütern bei der Europäischen Zentralbank (EZB) womöglich schon bald große Sorgen machen. Die Geldpolitik der EZB zielt bekanntlich auf eine Preissteigerung über der gegenwärtigen Inflationsrate von 0,2 Prozent: Knapp zwei Prozent sind das Ziel von Mario Draghi und seinen Mitstreitern. Wenn der Ölpreis weiter sinkt, könnte die Inflationsrate schnell in den negativen Bereich rutschen: Nach einer Untersuchung der Commerzbank würde ein Preisrutsch um zehn Dollar für das Barrel Rohöl die Inflation in der Euro-Zone um etwa 0,8 Prozentpunkte senken.

Das Resultat wäre eine fatale Debatte um eine angeblich drohende Deflation. All jene Kräfte in der EZB bekämen weiteren Auftrieb, die ohnehin die Geldpolitik noch weiter lockern wollen. „Die Gefahr ist groß, dass das billige Öl die EZB veranlasst, noch mehr Geld in die Wirtschaft zu pumpen und länger Staatsanleihen zu kaufen als vorgesehen“, warnt DekaBank-Volkswirt Kater. In der Folge blieben die Euro-Zinsen mindestens so niedrig wie bisher und würden neue Fehlinvestitionen und Preisblasen an den Börsen auslösen. Zudem schwände der Reformdruck auf die europäischen Krisenländer. Und dann – über den Umweg der Geldpolitik – könnte das billige Öl doch noch zum wirtschaftlichen Fluch werden.

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