Osteuropa Inflation trifft östliche EU-Länder besonders hart

Die Inflation trifft die EU-Länder in Osteuropa besondert hart und bedroht ihr Wachstum. Deutsche Unternehmen sind dabei Täter und Opfer zugleich.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Eine Europaflagge flattert im Quelle: dpa

Tiefer kann die Moral auf den 15 Fährschiffen der größten estnischen Reederei Tallink kaum sinken. Noch sprechen die Mannschaften nur hinter vorgehaltener Hand von Streik, aber: „Im Moment ist alles möglich“, sagt Kaia Vask, die Vorsitzende der Unabhängigen Gewerkschaft Estnischer Seeleute. Alarmiert von den explodierenden Lebenshaltungskosten in Estland fordert sie bis zu dreimal höhere Gehälter für die murrenden Seefahrer.

Denn das Leben wird fast nirgendwo in Europa schneller teurer als in Estland, Lettland und Litauen. Die Esten ächzen unter einer Inflationsrate von 11,6 Prozent, in Lettland stieg die Teuerungsrate im April sogar auf 17,4 Prozent. Grundnahrungsmittel wie Milch und Mehlprodukte sind in Estland heute mindestens 20 Prozent teurer als vor einem Jahr. Der lettische Gasversorger Latvijas Gaze will seine Gebühren für Privathaushalte um 71 Prozent erhöhen, im öffentlichen Nahverkehr der Hauptstadt Riga jagt eine Tariferhöhung die andere, und litauische Friseure klagen über Kundenschwund.

Gemeinsam mit Bulgarien und Rumänien leiden die drei baltischen Länder derzeit unter den höchsten Inflationsraten in der Europäischen Union. Der weltweite Preisschub bei Nahrungsmitteln und Energie trifft die offenen, importlastigen Volkswirtschaften im Nord- und Südosten mit ihren hohen Leistungsbilanzdefiziten viel härter als etwa Deutschland. Und die niedrigeren Löhne – hoch geschätzt von westlichen Investoren – machen das Leben für Durchschnitts- und Geringverdiener in der östlichen EU besonders schwer. Denn importierte Lebensmittel sind im Osten wegen des häufig mühsamen Transports über lückenhafte Verkehrsnetze oft teurer als im Westen. Der estnische Ökonom Jaan Omblus rät seiner Regierung, schon mal 1,3 Milliarden Euro Nothilfe für Hauskäufer bereitzustellen – 20.000 von ihnen, befürchtet Omblus, werden bald nicht mehr in der Lage sein, ihre Hypotheken zu bezahlen.

Die steigenden Preise schlagen auch auf die überhitzten Arbeitsmärkte durch. Ein gefährlicher Lohnwettbewerb kam in Gang: Mit den wachsenden Ausgaben für Lebensmittel und Energie begründen Arbeitnehmer immer höhere Gehaltsforderungen, und besonders den knappen Fachkräften werden sie auch erfüllt. Die lettischen Löhne stiegen in manchen Branchen im vergangenen Jahr um 30 Prozent. Morten Hansen erkennt darin einen Teufelskreis: „Die Produktivität hält mit den Löhnen nicht Schritt“, sagt der Chefökonom der Stockholm School of Economics in Riga. „Also verlangen die Unternehmen immer höhere Preise. Das wiederum treibt die Inflation an.“

Der Wettbewerb um Personal belastet auch deutsche Investoren wie den Energieversorger E.On Ruhrgas – er ist neben dem russischen Erdgasproduzenten Gazprom größter Aktionär der baltischen Gasversorger Eesti Gaas (Estland), Latvijas Gaze (Lettland) und Lietuvos Dujos (Litauen).

osteuropa

Aber warum sollte es E.On besser gehen als anderen Investoren? Das Unternehmen verleiht der Teuerung selbst immer wieder neuen Schwung: Deutsche Manager in den Aufsichtsräten entscheiden über die Gebührenerhöhungen für das von Gazprom aus Russland gelieferte Gas mit.

So trägt die rumänische Tochter des Düsseldorfer Energieriesen kräftig zur Inflation in ihrem Lande bei: E.On Gaz Romania droht offen damit, seine Gaslieferungen an Haushalte und Unternehmen zu drosseln, falls die staatliche Regulierungsbehörde nicht die erwünschte Preiserhöhung um 19 Prozent genehmigt. Schuld an der Eskalation, sagt der deutsche Aufsichtsratsvorsitzende Achim Saul, seien die gestiegenen Importpreise: „E.On Gaz Romania kann das Gas nicht länger unterhalb der Bezugskosten verkaufen.“

Auch in Rumänien sehen sich deutsche Unternehmen mit rapide steigenden Lohnforderungen konfrontiert. Für sie bedeutet das: „Ihre Kosten steigen, ihre Gewinne sinken“, sagt Marco Walde, Geschäftsführer der Deutsch-Rumänischen Industrie- und Handelskammer in Bukarest. Streiks verschärfen die angespannte Lage. Handelskonzerne, darunter auch Metro und Rewe, reichen die besonders seit der rumänischen Sommerdürre im vergangenen Jahr steigenden Preise für Agrarprodukte an ihre Kunden weiter. Die Teuerungsrate stieg im März auf über acht Prozent.

Da hatten die Angestellten des südrumänischen Autoherstellers Dacia genug: Unter Slogans wie „Schluss mit der Ausbeutung!“ und „Wir sind keine Kolonie!“, legten Tausende die Arbeit nieder. Im Mai zogen die bei Dacia eingesetzten Arbeiter des deutschen Zulieferers Leoni nach. Die Produktionsausfälle der – mit ihrem Billigmodell Logan spektakulär erfolgreichen Renault-Tochter – trafen gleich noch einen deutschen Zulieferer: Continental produziert an drei rumänischen Standorten. Dacias Rendite ist für Renault zu einem wahren Schatz geworden. Das ist den rumänischen Angestellten nicht entgangen – nach drei Wochen Ausstand und wütenden Protestkundgebungen hatten sie ihrem Management einen Lohnaufschlag von fast 30 Prozent abgetrotzt.

Dabei trägt so mancher Dacia-Arbeiter mit Schuld an seinen Nöten: Viele Rumänen haben Kredite, die zur Modernisierung ihrer Wohnungen gedacht waren, teilweise auch in neue Fernseher und Autos gesteckt. Jetzt aber fressen die höheren Lebenshaltungskosten den rumänischen Arbeitnehmern ihre laufenden Einkünfte weg und erschweren ihnen die Bedienung der Kredite.

Lange – das glauben zumindest die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF) – geht das alles nicht mehr gut: Stimmen ihre Prognosen, kühlt die lettische Wirtschaft in diesem Jahr gefrierschockartig ab. Statt um 10,2 Prozent wie 2007 soll das lettische Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr nur noch um 3,6 Prozent wachsen. Für 2009 sagt der IWF den Letten sogar eine Wachstumsrate von weniger als einem Prozent voraus. Estland prophezeit der Fonds ebenfalls ein Ende des Höhenflugs: Dort soll die Wachstumsrate von 7,1 auf drei Prozent sinken.

Mit strengen Worten mahnt der IWF auch Rumänien und Bulgarien: Die Regierungen müssten „die Inflations- und damit die Lohnerwartung der Bevölkerung unter Kontrolle halten“, sagt der Leiter der IWF-Mission in Rumänien und Bulgarien, Albert Jäger, „sonst gefährden sie die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Länder“.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%