Parlamentswahlen im Zeichen des Brexit Spanien droht Unregierbarkeit

Das hat der EU nach dem Brexit-Votum noch gefehlt: Trotz Neuwahlen konnten in Spanien keinen klaren Mehrheitsverhältnisse hergestellt werden. Dem Land droht nach der Frustwahl nun die Unregierbarkeit.

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Spaniens Ministerpräsident konnte sich laut den ersten Auszählungen bei den Parlamentswahlen behaupten. Quelle: AFP

Madrid In Spanien bleibt nach der Parlamentsneuwahl alles beim Alten. Und Charo hat es schon vorher gewusst. „Diese Wahl kostet ein Vermögen und ist reine Verschwendung“, schimpfte die rüstige Rentnerin schon am Sonntagnachmittag nach ihrer Stimmabgabe - und lange vor Bekanntgabe erster Ergebnisse. Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Madrid fuchtelte die Großmutter empört mit den Armen und rief laut: „Alle Spanier wissen es, nur die Politiker nicht: Es wird sich im Vergleich zur ersten Wahl im Dezember kaum etwas ändern. Es wird keine klaren Mehrheiten geben, die alten Probleme werden bleiben.“

Charo sollte recht behalten. Die konservative Volkspartei (PP) des geschäftsführenden Ministerpräsidenten Mariano Rajoy (61) behauptete sich erneut als stärkste Kraft und verpasste – wie schon am 20. Dezember – die absolute Mehrheit trotz Gewinnen wieder um Längen. Nach Auszählung von 92 Prozent der Stimmen lag die bisher regierende konservative PP bei 32 Prozent und kann mit mindestens 136 der 350 Parlamentssitze rechnen, wie das Innenministerium mitteilte. Die sozialistische PSOE behauptete sich entgegen ersten Prognosen gegen das junge Linksbündnis Unidos Podemos als zweitstärkste Kraft mit 23 Prozent der Stimmen oder 86 Sitzen. Kurz nach Schließung der Wahllokale hatten Umfragen zunächst nahegelegt, dass Unidos Podemos die traditionsreiche Arbeiterpartei überholt habe und knapp hinter der PP liege. Unidos Podemos und die ebenfalls junge liberale Partei Ciudadanos kamen auf die Plätze drei und vier.

Der Spitzenkandidat der linken Protestpartei Podemos (Wir Können), Pablo Iglesias, hat nach der Parlamentsneuwahl in Spanien ein „unbefriedigendes Abschneiden“ eingeräumt. „Wir hatten andere Erwartungen“, erklärte der 37-jährige Politologe auf einer Pressekonferenz am späten Sonntagabend in Madrid.

Iglesias betonte allerdings, seine Partei habe sich als politische Kraft konsolidiert. Der Weg von Podemos, das vor zwei Jahren praktisch nicht existiert habe, sei beeindruckend. Und er sei nicht zu Ende, versicherte er. „Unser Ziel ist immer der Sieg.“

„Die Rechnung geht wieder nicht auf“, sagte eine Moderatorin des TV-Senders „RTVE“. In der Theorie wäre zwar (wieder) eine große Koalition von PP und PSOE möglich, aber Sozialisten-Chef Pedro Sánchez hat eine Unterstützung der wegen Korruptions-Affären und Kürzungen heftig kritisierten Konservativen mehrfach kategorisch ausgeschlossen. Die Teilnehmer einer „RTVE“-Talkrunde am Wahlabend glauben ihm aus einem einfachen Grund: „Die Sozialisten würden Podemos das Feld überlassen und von der Bildfläche verschwinden.“

An einer anderen Koalitionsfront darf nicht vergessen werden, dass Podemos-Chef Pablo Iglesias (37) in den vergangenen Monaten Sánchez die Unterstützung verweigert hatte, nachdem die Sozialisten bereits einen Regierungspakt mit Ciudadanos geschlossen hatten. Und dass die Forderung des umstrittenen Politologen und Pferdeschwanzträgers, ein Unabhängigkeits-Referendum für die Region Katalonien zuzulassen, von allen gemäßigteren Kräften in Spanien - nach dem Brexit erst recht - abgelehnt wird.


Wird noch einmal gewählt?

Analysten nahmen am späten Abend schon wieder das Wort Unregierbarkeit in den Mund. Die Zeitung „El Mundo“ hatte das Gespenst schon vor Öffnung der Wahllokale auf Seite eins an die Wand gemalt: „Der Überdruss der Bürger, die Bedrohung der Unregierbarkeit und der Brexitschock prägen die zweite Wahl innerhalb von sechs Monaten.“

Dass die erste Neuwahl in der demokratischen Geschichte Spaniens ausgerufen wurde, wurde nicht nur vom Mann auf der Straße kritisiert, sondern auch von prominenten Politikern. Der Europa-Abgeordnete von Ciudadanos Javier Nart sprach am Wahlabend sogar von einer „Obszönität“ und beklagte eine „miserable politische Lage“.

„Ich habe letztes Mal für (die Linkspartei) Podemos gestimmt, bin aber enttäuscht, dass sich in den vergangenen Monaten auch Linke und Sozialisten nicht einigen konnten, um die Konservativen von der Macht zu verdrängen. Alle Politiker sind gleich“, klagt Chema. Der Student gründete mit sechs Kommilitonen die Gruppe „Tomar Si, Votar No“ (Trinken ja, Wählen nein). „Alle an der Uni schnauben vor Wut, aber nicht alle haben mitgemacht“, erzählt er.

Viele fühlen sich wie Chema von der Politik auf den Arm genommen, haben aber gewählt, weil sie nach der Abstimmung der Briten für einen EU-Austritt noch mehr Angst vor der Zukunft haben. Chemas Bewegung hatte „offiziell“ nur sieben Mitglieder. Dass aber sehr, sehr viele ähnlich dachten, zeigen die amtlichen Zahlen: Die Beteiligung fiel auf einen Demokratie-Minusrekord von 68 Prozent. Allein im Vergleich zum 20. Dezember gab es einen Rückgang um fünf Punkte.

„Wir spüren heute die Erschöpfung derjenigen, die gezwungen werden, nach einem unendlich langen Wahlkampf, der das ganze Elend der Politik an die Oberfläche getrieben hat, erneut ihre Stimme abzugeben“, klagte der angesehene Geschichtswissenschaftler und Soziologe Santos Juliá (76) im Renommierblatt „El País“. 

Sind aber dritte Wahlen denn möglich, ist ein Jahr ohne echte Regierung denkbar?, fragen sich viele in diesen ungewissen Stunden der viertgrößten Volkswirtschaft der Eurozone. Iñigo Errejón (32), die Nummer zwei des Linksbündnisses Unidos Podemos hinter dem Spitzenkandidaten Pablo Iglesias (37), sprach im Interview von „El País“ das aus, was viele denken: „Noch denkt der Wähler an die Zukunft, aber dritte Wahlen, ja, das wäre ein Desaster.“

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