Parlamentswahlen in Frankreich French Connection in Marseille

Zwar liegt Macrons Bewegung LREM in allen Umfragen weit vorn. Dennoch wird die Parlamentswahl am 18. Juni in vielen Wahlkreisen spannend wie ein Politthriller. In Marseille etwa ist das Rennen völlig offen. Ein Ortsbesuch.

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Marseille Mit letzter Kraft rennt Gene Hackmann am Nordrand des Alten Hafens von Marseille lang, den Revolver in der Hand, während auf dem Wasser der raffinierte Drogenboss Fernando Rey auf seinem Segler zu entschwinden droht. Der Showdown von French Connection 2 in der französischen Hafenstadt ist ein Klassiker, und Marseille 42 Jahre später immer noch Frankreichs Drogenmetropole. Am 18. Juni wird es am Nordrand des Hafens ein neues Gefecht geben, weniger gewalttätig, aber durchaus nicht friedlich. Hier ist der 4. Wahlkreis von Marseille, in dem politische Urgewalten aufeinandertreffen: Jean-Luc Mélenchon, der Linksaußen der französische Politik, Corinne Versini von Emmanuel Macrons „La République en Marche“ (LREM) und Patrick Menucci, alteingesessener Sozialist und Inhaber des Mandats, um das nun gerungen wird. Wie im Film gilt: Nur einer kann durchkommen.

Die landesweite Parlamentswahl am 11. und 18. Juni ist ein Puzzle von lokalen Schlachten wie der in Marseille. Deren Ausgang ist teilweise völlig offen, selbst wenn Macrons LREM in allen Umfragen weit vorn liegt und eine absolute Mehrheit der 577 Abgeordneten erhalten könnte. 90 Kilometer im Norden von Marseille kämpft Christophe Castaner, Minister und Regierungssprecher in Macrons Kabinett, um seine politische Existenz. Wird er im Zweiten Wahlkreis von Alpes-de-haute-Provence nicht gewählt, muss er ausscheiden. Macron landete bei der Präsidentschaftswahl hier nur auf dem dritten Platz. Und im zweiten Wahlkreis des Département Gard tritt mit Marie Sara, einer „Rejoneadora“, Stierkämpferin zu Pferd, für LREM eine Frau ohne jede politische Erfahrung gegen Gilbert Collard an, derzeit einer von zwei Abgeordneten des Front National in der Nationalversammlung. Längst nicht in jedem Stimmbezirk ist die Wahl ein Spaziergang für die Bewegung des jungen Präsidenten Macron. Den rhetorisch mächtigen, politisch wendigen Collard zu schlagen wäre ein riesiger Erfolg für die schlanke Frau. Sie ist auf einem guten Weg: Laut einer Umfrage vom Sonntag kann sie den Wahlkreis in der Stichwahl am 18. Juni knapp gewinnen.

In Marseille ist das Rennen noch offener. „Mélenchon hat nicht die geringste Chance, Menucci schlägt mit der Faust auf den Tisch, dann ist die Sache entschieden“, ist sich Ahmed sicher. Seit 40 Jahren hat er einen kleinen Lebensmittelladen im Viertel Le Panier, hoch über dem Alten Hafen von Marseille. Früher war das eine der ärmsten Ecken der Stadt, doch mittlerweile haben sich Künstler, zwei Antiquitätenhändler, ein Messerschmied und ein paar Restaurants in den niedrigen Häusern in schmalen Gassen niedergelassen. Ahmed und andere langjährige Einwohner fühlen sich nicht bedroht von der schleichenden Gentrifizierung. Behaglich streckt er seine Beine in die Abendsonne und redet über Mélenchon, den Mann, der keine Ahnung habe von Marseille. „Hier kennen wir uns noch alle, es bestimmen die Korsen und die Araber“, klärt er uns auf. „Es gelten eigene klare Regeln, die wichtigste lautet: Wenn ich esse, fällt für dich was ab, und wenn du isst, muss für mich was abfallen.“ Eine Hand wäscht die andere, würden wir etwas weniger bildhaft sagen. Seinem langen, faltigen Gesicht kann man nicht entnehmen, ob er das verwerflich findet oder es für das unvermeidliche Grundgesetz der Politik hält. Menucci ist für ihn ein Korse, auch wenn er als Nachfahre italienischer Einwanderer in Marseille geboren wurde. „Er kommt öfters zu mir in den Laden“, sagt Ahmed mit großer Selbstverständlichkeit. Menucci, das ist in den Augen Ahmeds die Macht.

Für Mélenchon dagegen stellt Menucci die fleischgewordene Erosion der Sozialisten dar. Der Linksaußen hält Menucci für den Gegner, der am leichtesten zu schlagen ist. Landesweit haben die Sozialisten bei der Präsidentschaftswahl eine krachende Niederlage erlitten. Auch in Marseille sah es nicht gut aus für sie, während Mélenchon als Kandidat von „La France Insoumise“, dem „Unbeugsamen Frankreich“, im Wahlkreis am Alten Hafen auf fast 40 Prozent der Stimmen gekommen ist. Deshalb kandidiert er hier. Der als Opfer ausersehene Sozialist Menucci tituliert ihn wütend als „mutlosen Polit-Nomaden,“  der sich keine Kandidatur dort zutraue, wo der Front National stark sei. Der fährt seine besten Ergebnisse ganz im Norden von Marseille ein, dort wo die von Drogenbanden beherrschten Wohnblocks stehen und die Hoffnungslosigkeit zu Hause ist. 


Die Marseiller reden anders als die Pariser

Macrons Kandidatin Versini hält sich aus dem „Hahnenkampf“ heraus, von dem viele in Marseille sprechen. „Ich führe eine saubere Kampagne, auch wenn ich deshalb nicht so sichtbar bin wie Mélenchon und Menucci“, sagt die erfolgreiche Unternehmerin, die aus Aix-en-Provence stammt. Sie ist Macrons  Angebot an alle, die Marseille und Frankreich völlig verändern wollen, weil von der Vetternwirtschaft einige profitieren, die Mehrheit aber leer ausgeht. „Marseille ist schon eine eigene Stadt“, sagt João, der als Kind portugiesischer Einwanderer hier geboren wurde. Er lächelt, als wir fragen, ob die Menschen das Grundgesetz der Marseiller Politik denn ändern wollen. „Diejenigen, die bei der Vergabe von Jobs, Wohnung und Aufträgen davon profitieren, sicher nicht, die anderen schon.“ Aber hier sagten die Leute nicht nur „Eine Hand wäscht die andere“, sondern auch: „Man kauft den Fisch nicht im Wasser“, will sagen: Ohne ein ordentliches Bakschisch kommt keine Entscheidung zustande. „Ich habe keine Beziehungen, deshalb würde ich mir wünschen, dass sich etwas ändert“. Obwohl Franzose, hat João nicht einmal eine Berufsausbildung bekommen, daran scheiterte sein Plan, nach Deutschland zum Arbeiten zu gehen. „Bauarbeiter kann ich auch hier sein“, sagt er illusionslos, aber ohne Bitterkeit.

Die Marseiller reden anders als die Pariser, die nie Zeit haben, gerne über Politik. Auch Frédéric, dem seit zwei Jahren ein kleines Restaurant am Fuße des Panier-Hügels gehört. „Die Stadt ist schon sehr korrupt, aber ich bin so klein, die korsischen Gangs interessieren sich glücklicherweise nicht für mich“. Während er einen Teller mit frischen Pfahlmuscheln auf den Tisch stellt, sagt er ganz offen, dass er auf den Sieg von LREM setzt, „weil sich dann die Verhältnisse hoffentlich ändern werden.“ Nach jeder Präsidentschaftswahl hätten die Franzosen bei der folgenden Parlamentswahl dem neuen Präsidenten zu einer eigenen Mehrheit verholfen, die ihn handlungsfähig mache. „Das wird dieses Mal hoffentlich nicht anders sein.“ 

Doch in diesem Wahlkreis steht die Macron-Kandidatin Versini vor einer harten Auseinandersetzung. Sie spricht aufstiegsorientierte Franzosen an, aber nicht unbedingt die armen Nachkommen maghrebinischer Einwanderer, die hier die Mehrheit stellen. Neben Korsen und Arabern gibt es mittlerweile auch viele Komorer. In kleinen Fischerbooten gelangen viele von ihnen zur französischen Insel Mayotte nördlich von Madagaskar  - und damit steht dann die Tür nach Frankreich offen. Macrons geschmackloser Witz, die Boote der bitterarmen Inselbevölkerung transportierten „wenig Fische, dafür aber viele Komorer“,  ist hier besonders schlecht angekommen. Auf einem Markt direkt neben dem neuen Hafen verteilt Clémence Flugblätter für Versini. Große Euphorie löst sie nicht aus: Die meisten Leute, die sie anspricht, behaupten: „Das hier ist leider nicht mein Wahlkreis“. Damit vermeiden sie, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Clémence ist besonders schlecht zu sprechen auf Mélenchon: „Ein autoritärer Typ, ein Faschist, der duldet niemanden mit anderer Meinung“, flucht sie. Sogar Morddrohungen habe es in Marseille gegeben gegen Kandidaten von „En Marche“, empört sie sich. Drogen und Gewalt können auch in den ruhigsten Winkeln von Marseille plötzlich präsent erscheinen, wie in French Connection.

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