Peter Altmaier, Thea Dorn, Thomas Ostermeier "Die Welt macht uns schwindlig"

Die Welt ist aus den Fugen geraten. Wer hat die Macht, sie wieder einzurenken? Ist die Politik heute ohnmächtig? Antworten von Autorin Thea Dorn, Kanzleramtschef Peter Altmaier und Bühnenregisseur Thomas Ostermeier.

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Kanzleramtschef Peter Altmaier, Autorin Thea Dorn und Bühnenregisseur Thomas Ostermeier im Gespräch. Quelle: Werner Schuering für WirtschaftsWoche

Am Anfang ist die Dame. Schriftstellerin Thea Dorn, bekannt als Autorin von „Die deutsche Seele“ und Ensemblemitglied des „Literarischen Quartetts“, kommt zuerst ins Renger-Patzsch in Berlin-Schöneberg. Sie wohnt ganz in der Nähe. Thomas Ostermeier erreicht sein Lieblingsrestaurant ein paar Minuten später, winkt voraus, begrüßt im Nebenraum aber erst einmal den Schauspieler Sebastian Koch. So viel Zeit muss sein. Der Künstlerische Leiter der Schaubühne am Ku’damm hat in den vergangenen Jahren besonders schöne Shakespeare-Inszenierungen („Hamlet“, „Richard III.“) vorgelegt. Unerwartet und angenehm unstandesgemäß rollt dann der letzte Gast des Abends mit dem Fahrrad vor. Der Politiker Peter Altmaier, Kanzleramtschef, enger Vertrauter der Bundeskanzlerin und Mitverfasser des CDU-Wahlprogramms, hat für den kurzen Weg aus seiner Charlottenburger Wohnung auf den Dienstwagen verzichtet.

Um Macht soll es mit ihnen an diesem Abend gehen, aber auch um Ohnmacht – also darum, was die Welt in dieser turbulenten Zeit zusammenhält. Oder etwa nicht? Wie machtvoll sind Politiker, die „systemrelevante Banken“ retten müssen und uns laufend „Alternativlosigkeiten“ auftischen? Kann das Theater im Sinne Schillers noch ein besserer Ort des Gegenentwurfs, eine „moralische Anstalt“ sein? Und welchen Einfluss haben „public intellectuals“ in einer Öffentlichkeit, auf deren demoskopische Vermessung im Wochentakt wiederum die Politik reagiert? Große Fragen, die sich auch mit Spargel, Perlhuhn und Weißwein nicht lösen, wohl aber leidenschaftlich diskutieren lassen.

WirtschaftsWoche: Frau Dorn, Herr Ostermeier, Herr Altmaier – hier am Tisch sitzen eine sprachgewaltige, streitbare Publizistin, ein auf der ganzen Welt gefeierter Theatermacher und der wohl wichtigste, weil einflussreichste Vertraute der Bundeskanzlerin. Wer von Ihnen ist am mächtigsten?

Dorn: Mächtig? Ich als freiberufliche Schriftstellerin sicher nicht.

Zu den Personen

Aber Ihre Bücher sind Bestseller, Ihre Essays werden viel gelesen und breit diskutiert. Millionen sehen Sie im Fernsehen. Ist das keine Macht?

Dorn: Macht ist, klassisch definiert, die Fähigkeit, seinen Willen gegen Widerstände durchzusetzen. Das vermag ich nicht. Im Gegensatz zu Herrn Altmaier beispielsweise. Es stimmt, ich kann Debatten befeuern. Aber dann habe ich vielleicht etwas, das ich Einfluss nennen würde.

Altmaier: Bevor ich mich gegen den Vorwurf des Machthabers hier am Tisch wehre, würde ich zuerst gerne eine feine Linie zwischen Macht und Allmacht ziehen. Allmächtige Politiker würden mir Angst machen. Glücklicherweise kenne ich auch keine. Unsere Macht als Politiker in Deutschland ist begrenzt, das muss auch so sein. Und doch gilt: Politiker, die gar nichts zu ändern vermögen, sind fehl am Platz. Im Übrigen, Frau Dorn, will ich Ihnen aus Überzeugung widersprechen: Über das, was wir politisch gestalten sollten, wird in der Gesellschaft debattiert. Dabei haben Kunst und Kultur, Filmemacher, Theaterregisseure und Intellektuelle, die sich einmischen, einen gewaltigen Einfluss. Das ist selbstverständlich eine Form von Macht.

Herr Ostermeier, Sie wollen sicher Einspruch erheben.

Ostermeier: Allerdings. Ich habe keine politische Macht. Und bin auch sehr froh drum. Der große Schauspieler Gert Voss hat mal gesagt: Der Mensch ist nicht für die Macht gemacht. Von Shakespeare können wir das plastisch und drastisch lernen: Macht deformiert den Charakter, bricht die menschliche Moral. Immer droht der Missbrauch. Lesen Sie mal „Maß für Maß“, Herr Altmaier. Da ist das alles durchdekliniert: Verlotterung durch Macht, Verkümmerung, Abstieg – alles.

Altmaier: Genau deshalb habe ich eben von den Grenzen gesprochen, die uns gesetzt sind. Das hat einerseits mit Verfassung und Demokratie zu tun. Aber andererseits auch mit kontrollierender, kritisierender Öffentlichkeit und gesellschaftlichem Comment. Was ich sagen will: Politik lebt von Kräften und Einflüssen, die wir selbst nicht in der Hand haben.

"Nichts ist schlimmer als ein Politiker, der nichts will."

Das wäre Machtlosigkeit.

Altmaier: Aber nein! Nur ein Beispiel: Die Umweltschutzbewegung kam aus der Mitte der Gesellschaft. Es waren Bürger, die die Politik in den Achtzigerjahren gezwungen haben, dieses Thema auf ihre Agenda zu setzen. Wie wir heute sehen: sehr erfolgreich. Das ist die ewige Spannung, in der wir Politiker uns bewegen: Wir müssen Überzeugungen haben und sollen sie durchsetzen. Nichts ist schlimmer als ein Politiker, der nichts will. Aber wir dürfen nie das Ohr und das Gespür für die Vorstellungen der Bürger verlieren.

Klingt fast so, als seien Sie ein Getriebener, kein Bestimmer.

Altmaier: Beides. Nur ein Beispiel: Die Umwälzung aller Lebensbereiche durch digitale Technologie lässt sich nicht staatlich aufhalten. Sie bedarf aber politischen Handelns, um daraus für unser Land eine positive Geschichte werden zu lassen.

Dorn: Dann sollten wir jetzt bitte über Artikel 20 unseres Grundgesetzes sprechen: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Üblicherweise verstehen wir das heute als Auftrag, alle paar Jahre Parteien zu wählen und abzuwählen. Allerdings bekomme ich mehr und mehr den Eindruck, dass der Satz von Politikern ganz anders interpretiert wird. Statt eigener Überzeugungen regiert die Demoskopie. Politiker werden nicht mehr für klar formulierte Vorhaben gewählt und danach bewertet, ob sie diese dann auch durchziehen – vielmehr lassen sie sich permanent Stimmungsbilder liefern, an denen sie sich orientieren – und gemäß denen sie entscheiden. Der innere Kompass weicht einem Umfragegehorsam.

Ostermeier: Sie glauben wirklich dran, oder?

Dorn: An den Satz aus unserer Verfassung? Ich halte ihn hoch, das ja.

Ostermeier: Dass er so im Grundgesetz verewigt ist, gefällt mir auch. Was ich meine, ist: Glauben Sie an seine Wahrheit?

Dorn: Ich verteidige die doppelte Aufforderung, die in ihm liegt: an uns Staatsbürger, unser Wahlrecht auszuüben und uns öffentlich einzumischen. Und an die Politiker, die an sie delegierte Staatsgewalt zu nutzen – mit Haltung. Konkret: Der wiederbeschleunigte Atomausstieg nach Fukushima war keine seriöse Politik, sondern eine Panikreaktion auf antizipierte Bürgerstimmung.

Altmaier: Panik? Es wäre unseriös gewesen, nichts zu ändern. Weil die Risikobewertungen aller Experten von der Wirklichkeit ad absurdum geführt wurden, konnten wir nicht die Hände in den Schoß legen. Davon abgesehen, fallen mir viele Beispiele ein, in denen Regierungen sich gegen das gestellt haben, was sie als Stimmungsbilderpolitik gescholten haben.

Dorn: Welche denn?

Altmaier: Die Einführung des Euro und die Abschaffung der D-Mark. Die mutige Agenda 2010. Und auch bei der Flüchtlingskrise war die demoskopische Lage wahrlich nicht immer aufseiten der Bundeskanzlerin. Trotzdem hat sie getan, was sie für richtig hielt.

Ostermeier: Ich habe Ihnen, Herr Altmaier, sehr aufmerksam zugehört, und ich bin wirklich erstaunt. Dieser alte Sponti-Satz „Die Macht liegt auf der Straße“ ist vielleicht doch näher dran an der Wahrheit, als ich je zu hoffen wagte. Mir schien es bisher immer so, dass wir eine kapitalistische Wirtschaftsordnung haben, in der eine eigene Klasse, geformt aus Geldinteressen, regiert. Deshalb: Alle Macht geht vom Volke aus? Ich hör es wohl. Allein mir fehlt der Glaube.

Dorn: Aber was gilt denn stattdessen? Alle Macht geht vom Kapital aus? Da bin ich mehr als skeptisch.

Altmaier: Und ich erst.

Dorn: (lacht) Sonst hätte ich jetzt auch den letzten Glauben an die CDU verloren.

Altmaier: Schon mit dem Begriff der Klasse kann ich so gar nichts anfangen …

Ostermeier: … halt! Nur damit das klar ist: Mir geht es um Analyse, nicht darum, einen real existierenden Marxismus herbeizureden …

Altmaier: … na immerhin. Aber schauen Sie sich doch um: Die soziale Marktwirtschaft, die Mitbestimmung – das ist nichts anderes als die Zähmung von Kapitalinteressen.

Wollen Sie die herrschenden Verhältnisse nicht mit Ihrer Theaterkunst erschüttern, Herr Ostermeier?

Ostermeier: Ich bin nicht naiv. Die Welt ändert sich nicht durch den zarten Hauch eines Theaterabends. Mein größtes Anliegen ist, meine eigenen Widersprüche in dieser Welt zu thematisieren und zu verarbeiten. Aus keiner Theateraufführung ist je eine Revolution erwachsen.

Dorn: Das wäre auch vermessen und unstatthaft. Was uns obliegt, ist die richtigen Fragen zu stellen.

"Das ist die Lehre des Prometheus"

Welche drängen sich denn auf?

Dorn: Mich beschäftigt etwa der technologische Wandel. Haben wir all die Maschinen, die biotechnischen Optimierungsmethoden, die Digitalisierung noch im Griff – oder steuern sie mittlerweile uns? Da herrscht bei mir eine große Ratlosigkeit. Weshalb ich Politiker auch immer für ihre Dienste verteidige, denn ich möchte die Antworten nicht geben müssen.

Halten wir fest: Der Kanzleramtschef starrt auf die öffentliche Meinung. Der Regisseur will keine Revolution, die Publizistin ist glücklich, wenn sie Fragen formuliert. Warum so mutlos?

Altmaier: Herrgott, was für Zerrbilder! Es gibt nun mal kein Buch, das unser Allgemeinwohl definiert, deshalb haben wir die Demokratie als ewigen Prozess seines Aushandelns – sie ist ja selbst das Ergebnis eines langen Kampfs. Politik, Kultur und Gesellschaft stehen in einem osmotischen Austausch. Nichts daran ist mutlos, es ist geradezu notwendig. Stellen wir uns doch nur kurz eine Welt vor, in der das nicht gelten würde – vielen Dank auch.

Also noch einmal die Machtfrage: Wie viel Autonomie haben Sie, wie viel Raum zur Gestaltung Ihrer Interessen – und zur Veränderung der Welt?

Dorn: Wenn ich schreibe, habe ich ein Maß an Autonomie, das unvergleichlich ist. Kein Verlag hat mich bislang ohnmächtig gemacht. Was das große Ganze angeht, stelle ich mir aber in der Tat die Frage, wohin unsere Reise geht, wenn Gott und Schicksal gar keine Rolle mehr spielen sollen. Ja, unser ganzer Zivilisationsprozess ist ein Aufbäumen gegen Unmündigkeit, ein Kampf für Selbstbestimmung, auch gegen die Grenzen der Natur. Das ist die Lehre des Prometheus: Du musst nicht winselnd in der Ecke liegen, Mensch, du selbst hast die Mittel, dein Schicksal zu bestimmen.

Ostermeier: Kommt jetzt das Aber? Für das Überbringen dieser Botschaft wird Prometheus schließlich bestraft.

Dorn: Es gibt kein Zurück mehr. Das ist das spezifisch Menschliche: diese Spannung zwischen Unterworfensein und Gestaltungsdrang. Deshalb wird mir angst und bange, wenn ich ins Silicon Valley schaue: Wie dort an der totalen Steuerbarkeit des Lebens gearbeitet wird, befremdet mich zutiefst. Dabei ist dieser Wandel eben keine Naturgewalt, es ist eine Menschengewalt.

Die zwölf Supertrends der Zukunft
Credit SuisseDer Schweizer Finanzdienstleister unterscheidet bei den Supertrends fünf verschiedene Themen-Bereiche: multipolare Welt, Infrastruktur, neue Technologien, Silver Economy (alles rund um die älter werdende Bevölkerung) und – als Gegenstück dazu – die Ziele der Millennials, der sogenannten Generation Y. Quelle: REUTERS
Trend 1: Verunsicherung der MittelschichtDer Brexit gilt als Symbol für die Verunsicherung der Mittelschicht. Diese ärgert sich laut der Credit-Suisse-Analyse immer mehr darüber, dass die Politik sich nicht ausreichend mit als wichtig empfundenen Problemen – wie unkontrollierter Einwanderung und Terrorismus – auseinandersetzt. Das hat dazu geführt, dass sich die Mittelschicht in vielen europäischen Ländern Veränderungen im politischen System wünscht – und beispielsweise in Großbritannien dem Brexit zustimmte. Die in den turbulenten vergangenen Monaten angetretenen neuen Regierungen wollen sich laut Wahlversprechen wieder mehr für die Mittelschicht einsetzen. Hier knüpfen die Empfehlungen der Credit Suisse an, auf welche technischen und wirtschaftlichen Supertrends Anleger aktuell ein besonderes Auge werfen sollten. Quelle: AP
Trend 2: Neue Jobs, höhere LöhneDie Credit Suisse tippt darauf, dass neue Regierungen in Europa versuchen werden, den Wohlstand der Mittelschicht wiederherzustellen. Dafür sollen neue Jobs geschaffen und das Lohnniveau gesteigert werden. Die Schweizer Bank rechnet aus diesem Grund mit einem Aufschwung für Sektoren und Firmen, die von dieser politischen Wiederentdeckung der Mittelschicht profitieren. Quelle: dpa
Trend 3: Sicherheit und VerteidigungDas Gleichgewicht verschiebt sich: Geopolitische Unsicherheiten und ein angespanntes Verhältnis zwischen den militärischen Schwergewichten USA, Russland und anderen führt laut der Studie dazu, dass Politiker ihren Fokus auf die Themen Sicherheit und Verteidigung legen werden – und auf die Konzerne, die sich um diese Bedürfnisse kümmern. Entsprechende Investments dürften sich auszahlen. Quelle: dpa
Trend 4: DrohnenNeben der Verteidigung spielt auch der Bevölkerungsschutz eine große Rolle. Laut Credit Suisse wird der Markt für entsprechende Produkte rapide wachsen. Das Aufspüren von Sprengsätzen und die Überwachung öffentlicher Plätze könnten in Zukunft von Drohnen, Robotern und künstlicher Intelligenz übernommen werden. Quelle: dpa
Trend 5: Investitionen in WachstumsmärkteNeue Wachstumsmärkte wie beispielsweise die Volksrepublik China sind auf der nächsten Entwicklungsstufe angekommen. Die Credit Suisse vermutet deshalb, dass gerade die dortigen Konsumenten zukünftig im Fokus stehen – ihrer Regierungen, aber auch der internationalen Anleger. Quelle: REUTERS
Trend 6: Heimische MärkteDie Bank ist sich außerdem sicher, dass nationale Firmen und Marken bei den Konsumenten wieder beliebter werden. Das ist aber nicht nur auf steigende Vertrauenswürdigkeit und sinkende Preise zurückzuführen. In einigen Ländern, wie etwa in Brasilien, schützen zudem strenge Auflagen den heimischen Markt vor Importen, etwa in der Arzneimittel-Branche. Quelle: dpa

Altmaier: Sehen Sie: Das Gute muss erkämpft werden. Ich teile Ihren Pessimismus ohnehin nicht. Ich glaube, die Digitalisierung hat mehr Gutes als Schlechtes gebracht. Der Zugang zu Wissen ist unbeschreiblich groß geworden. Und – im Gegensatz zu früher – für alle. Über Twitter erreichen mich heute Bürger direkt, die mich einst allenfalls auf der Mattscheibe hätten sehen können. Das ist keine Unterdrückung, sondern Ermächtigung.

Ostermeier: Aber die Richtung stimmt trotzdem ganz und gar nicht. Und ich meine auch, überall ein Unbehagen an dieser neuen Kultur zu spüren, das sich Raum verschafft.

Altmaier: Woran machen Sie das fest?

Ostermeier: An Donald Trump. An 30 Prozent für Marine Le Pen. Am Brexit. Da ist doch – noch mal Shakespeare – alles aus den Fugen. Wenn wir uns einig sind, dass die durch und durch technologisierte Welt wahnsinnige Abgründe und Risiken birgt – dann will ich nicht morgen von den Falschen regiert werden.

Dorn: Der Level der Angst steigt. Alles beschleunigt sich so massiv. Früher sind Menschen noch in einer Welt groß geworden, die der ihrer Großeltern sehr verwandt war. Das ist vorbei. Meine Großmutter würde diese Welt nicht wiedererkennen.

Diese Ökonomen haben unsere Welt geprägt
Korekiyo Takahashi Quelle: Creative Commons
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Hat der Umstand, dass sich so viele Wähler von etablierten Parteien und ihren führenden Köpfen nicht mehr repräsentiert fühlen, dann gar nichts mit den Repräsentanten selbst zu tun?

Ostermeier: Oh doch! Die Welt macht uns schwindlig, und die bekannten Köpfe können uns nicht mehr neu orientieren. So entsteht das Vakuum, das die Populisten füllen.

Herr Altmaier, heißt das, Sie haben versagt?

Altmaier: Was erwarten Sie jetzt für eine Antwort? Gerade Deutschland erweist sich doch als sehr stabil, die Volksparteien erfreuen sich vergleichsweise großer Zustimmung, die AfD ist bereits wieder auf dem absteigenden Ast.

Dorn: Aber Angela Merkel hat das tödliche Wort von der „Alternativlosigkeit“ geprägt. Das bedeutet so viel wie: Ich bin nicht frei in meiner Entscheidung.

Europa atmet durch

Tatsächlich haben wir in vielen Ländern Europas den Aufstieg populistischer Bewegungen erlebt. In Deutschland vorerst nicht – weil es uns wirtschaftlich besser geht?

Ostermeier: Ich glaube nicht. Die europäischen Gesellschaften gleichen sich, weil in ihnen allen die Verwerfungen einer neoliberalen Revolution zu verzeichnen sind. Der Deregulierungsfuror von Milton Friedman war eine samtfüßige Revolution, die allerdings alle Diskurse verändert hat. Wir sprechen nicht mehr von Klassenkampf, sondern vom sozialen Frieden. Wir sprechen nicht mehr von Ausbeutung, sondern von Mitbestimmung. Wir sprechen nicht mehr von Proletariern, sondern von Selbstunternehmern …

Dorn: ... na ja, Ausbeutung im deutschen Sozialstaat ...

Ostermeier: … wir haben es in Deutschland mit einer seltsamen Zwittersituation zu tun. Wir verteidigen einerseits unser Sozialstaatsmodell, das ist gut. Aber wir pflegen andererseits das Gefühl, dass wir besser, arbeitsamer, aufgeweckter sind als der Rest der Welt – und das ist nicht richtig. Denn die soziale Kluft wird in allen Demokratien größer, auch in Deutschland.

Was zeichnet die Gemeinwohl-Ökonomie aus?

Dorn: Ich glaube eher, dass Europa gerade durchatmet und sozusagen wieder zu sich kommt. Natürlich, 5 bis 15 Prozent der Bevölkerungen neigen zum Rechtsradikalismus und sind mit allen guten Argumenten nicht erreichbar – die gibt’s, aber das halten wir mit unserem Rechtsstaat und unserer stabilen Zivilgesellschaft aus. Und sicher: Zuletzt haben auch viele Leute aus der Mitte der Gesellschaft mit deutschtümelnden Positionen geliebäugelt. Es gab plötzlich eine dunkle Lust daran, die Mächtigen zu erschrecken, auf den Tisch zu hauen, ein bisschen Politrandale zu veranstalten. Aber das Einzige, wofür wir US-Präsident Donald Trump dankbar sein können, ist doch, dass die meisten Europäer ihre bürgerliche Vernunft wieder entdeckt haben.

Altmaier: Es gibt immer Menschen, die sich dem Fremden auf hässliche Weise widersetzen. Daneben gibt es andere, die auf die Komplexität der weltpolitischen und wirtschaftlichen Verflechtungen allergisch reagieren und sich nach Einfachheit sehnen. Stattdessen haben wir in Frankreich erlebt, dass es immer noch eine sehr kraftvolle Mitte gibt, die sich solchen Entwicklungen in den Weg stellt. Das stärkt mein Vertrauen in die Kraft des demokratischen Gesellschaftswandels.

Ostermeier: Vielleicht hat die Unzufriedenheit vieler Menschen auch ihren Hauptgrund im Versagen der Linken. Es war ihr historischer Auftrag, den Unterprivilegierten, Ausgegrenzten und Abgehängten eine Stimme zu geben. Diesen Auftrag hat die Linke vergessen – ihre Regierungen sind schlicht über ihre Wähler hinweg stolziert. Siehe die Agenda-Politik von Gerhard Schröder, das war ein neoliberaler Sozialdemokrat. Seither ist das Vertrauen dahin.

Die Linke geriert sich ständig als Opfer anonymer Prozesse und Mächte. Damit beurkundet sie die gleiche Machtlosigkeit wie Angela Merkel mit ihrer Alternativlosigkeit. Warum spricht die Linke ständig vom System, statt die Menschen aufzufordern, ihr Konto bei der Deutschen Bank aufzulösen?

Ostermeier: Es gab sehr konkrete Oppositionsbewegungen: Occupy, Proteste auf dem Syntagma-Platz, auch die Indignados in Spanien. Ich bin da wie gesagt mit Peter Altmaier einer Meinung: Die Macht liegt auf der Straße.

Dorn: Aber das Problem ist doch viel größer, als dass man es mit „Neoliberalismus“ zu fassen bekäme. Die westliche Welt befindet sich in einer internen und externen Krise. Die interne Krise verdankt sich dem Paradox der Aufklärung. Die Kernidee der Aufklärer ist, dass dem Individuum mehr Autonomie eingeräumt wird, dass es sein Menschenrecht ist, sich die Welt gestaltend anzueignen, seine persönlichen Interessen in einer verfassungsgemäßen Ordnung zu verfolgen. Allerdings machen wir heute die Erfahrung, dass dieser Ermächtigungsprozess in sein Gegenteil zu kippen droht. Wir haben uns rationalisiert und technologisiert – und laufen Gefahr, uns von Algorithmen versklaven zu lassen.

"Wenn alles alternativlos ist,..."

Ostermeier: Und wenn die Menschen dann noch von externen Krisen behelligt werden, auf die die Politik mit Ratlosigkeit reagiert, wenn sie etwa zu hören bekommen, Banken seien „systemrelevant“ und müssten gerettet werden, während es zum Sparkurs der Griechen …

Dorn: … und zur Öffnung der Grenzen keine Alternative gegeben habe, dann sind das Eingeständnisse der Ohnmacht, auf die die Bevölkerungen zu Recht allergisch reagieren. Die Menschen wollen nicht hören, dass sie einer Situation nicht entkommen können – weil es zu ihrem Selbstverständnis gehört, ja: weil ihr Stolz darin besteht, nicht machtlos zu sein.

Ostermeier: Wenn alles alternativlos ist, sucht man sich eben jemanden, der doch noch eine Alternative bietet.

von Marc Etzold, Dieter Schnaas, Gregor Peter Schmitz

Altmaier: Ach, alternativlos ist nur der Tod. In der politischen Debatte gibt es immer Alternativen. Beispielsweise gibt es die Möglichkeit, Griechenland vor die Hunde gehen zu lassen. Und zu der Alternative, die eigene Wettbewerbsfähigkeit durch Reformen wiederzugewinnen, gibt es die Option, auf Reformen zu verzichten und damit den Wohlstand der eigenen Bevölkerung aufs Spiel zu setzen. Auch gibt es zur Demokratie die Alternative totalitärer Systeme – aber sind wir im politischen Diskurs nicht eigentlich schon viel weiter? Haben wir nicht seit den Fünfzigerjahren gelernt, dass wir zur Demokratie keine Alternative wollen? Und haben wir uns seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht darauf verständigt, dass die Marktwirtschaft das beste uns bekannte Wirtschaftsmodell ist? Was natürlich nicht ausschließt, dass Märkte auch Grenzen brauchen. Die Banken- und Börsenkrise hat gezeigt, dass die Politik imstande ist, den Märkten Zügel anzulegen.

Ostermeier: Aber das war doch völlig ungenügend.

Altmaier: Das ist Ihre Auffassung. Zu ihrer Verbreitung können Sie eine Partei gründen oder demonstrieren – und wenn genügend Leute mitlaufen, wird Ihre Auffassung zu einer Macht. Fest steht, dass etwa Occupy diese Macht nicht mehr hat. Und dass die Wähler auch das Interesse an Wolkenkuckucksheimen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen verloren haben.

Ostermeier: Das bedingungslose Grundeinkommen, lieber Herr Altmaier, werden auch Sie noch eines Tages verteidigen – spätestens dann, wenn in den Fabriken nur noch Roboter stehen, die die Produkte herstellen, und keine Arbeiter, die mit dem Lohn, den sie bekämen, diese Waren kaufen könnten. Dann wird auch der letzte Kapitalist vom bedingungslosen Grundeinkommen überzeugt sein.

Altmaier: Auch die Fabriken müssen fabriziert werden. Von Menschen. Sie müssen mit Rohstoffen gefüttert werden, die Menschen gewinnen. Das Ende der Arbeit wird nie kommen.

Herr Ostermeier, ist die Linke nicht einfach deshalb so melancholisch und müde geworden, weil sie im Kampf gegen den Kapitalismus immer und immer wieder den Kürzeren zieht? Weil ein Kapitalist erst einmal den Wohlstand erwirtschaften muss, den ein Linker danach theoretisch wieder verteilen könnte?

Ostermeier: Die Linke reagiert nicht mit Melancholie auf Kapitalismus und Globalisierung. Im Gegenteil. Sie kann sich versammeln hinter einer langen Geschichte von Internationalismus. Lange vor der Globalisierung hat sich die Linke international orientiert und den Nationalismus als Herrschaftsinstrument dekonstruiert. Damit macht sie deutlich, dass Grenzen nicht zwischen Völkern verlaufen, sondern zwischen Oben und Unten. Dieser Kampf ist noch lange nicht entschieden.

Dorn: Die Linke. Ich höre immer „Die Linke“. Was ist das denn? Die Linken, das waren einmal die, die ihr Schicksal nicht annehmen wollten, sondern im Zweifel zornig auf Veränderungen drängten. Die gesagt haben, dass ein Arbeiterkind auch Arzt werden kann und werden soll. Doch die Trennung zwischen Rechten und Linken gibt es nicht mehr. Gäbe es sie, müssten heute vor allem die Konservativen gegen diesen Turbokapitalismus anrennen. Auf diesen Aufstand werden wir wohl vergeblich warten – wenn das mal keine Ohnmacht ist.

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