Polen nach dem Brexit-Referendum „Ist das noch ein Ort für mich?“

Polnische Einwanderer fürchten wegen des Brexits um ihre Existenz. Trotz Unsicherheit und Rassismus wollen viele vorerst in Großbritannien bleiben. Einige hielten es aber nicht aus und verließen Großbritannien.

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Der Rassismus in Großbritannien wird besonders gegen polnische Einwanderer deutlich. Hier protestieren Polen wegen der Ermordung von Arkadiusz Jozwik, der aufgrund seiner polnischen Nationalität erschlagen wurde. Quelle: dpa

Krakau/London Nur einen Tag nach der Brexit-Abstimmung stieg Marietta L. in den Flieger zurück nach Polen. Mehr als ein Jahr hatte die 26-Jährige in London gearbeitet. Obwohl sie wegen ihrer Hochzeit nach Polen zurückkehren wollte, fiel auch das Brexit-Votum ins Gewicht. „Ich war schon sehr erleichtert, als ich im Flieger saß“, sagt die junge Polin. Sie habe sich in England nicht mehr willkommen gefühlt. „Wenn sie mich hier nicht haben wollen - dann eben nicht, dachte ich.“

Eine strengere Kontrolle über die Einwanderung von EU-Bürgern war eines der Hauptthemen im Wahlkampf vor dem Referendum über den Austritt. Mit fast einer Million bilden Polen die größte Gruppe der EU-Ausländer im Vereinigten Königreich. Als ihre Heimat 2004 der EU beitrat, reisten sie ein, auf der Suche nach Arbeit. Die meisten polnischen Einwanderer sind im Gastgewerbe oder in der Landwirtschaft tätig. Auch Marietta konnte nach ihrem Architektur-Studium in Polen in ihrer Heimat keine Anstellung finden. „In London hat es dann gleich geklappt“, sagt sie.

Dort arbeitete die Polin mit vielen Spaniern, Italienern und Portugiesen zusammen. Die anderen EU-Staatler seien ebenfalls wegen der schwierigen Arbeitsmarktsituation in ihren Heimatländern nach Großbritannien gekommen. „Das Referendum hat uns alle gleichermaßen erschüttert“, erinnert sich Marietta. „Schließlich repräsentierte es die Meinung der meisten Briten“, fügt sie hinzu. „Wir fühlten uns unbehaglich.“

Zurück im südpolnischen Krakau machte sie sich im Sommer mit einer eigenen Architekturfirma selbstständig. Damit zählt Marietta zu den Rückkehrern, in die Polens Regierung nach dem Brexit-Referendum große Hoffnungen setzt. Mit dem im Ausland erworbenen Know-how sollen sie den polnischen Arbeitsmarkt in Schwung zu bringen.

Insgesamt scheint das Land für junge Polen attraktiver zu werden. Immer weniger junge Menschen wollen jüngsten Umfragen zufolge ihr Glück im Ausland suchen. Das Durchschnittseinkommen erreichte Ende 2016 ein Rekordhoch. Mit rund 1080 Euro im Monat fällt es im EU-Vergleich dennoch niedrig aus. Für Polen, die bereits in Großbritannien leben, ein Grund nicht voreilig zurückzukehren.

Trotz großer Verunsicherung durch die Brexit-Wahl dürften die meisten von ihnen zunächst bleiben, sagen zumindest Experten des Warschauer Instituts für Internationale Beziehungen (PISM) voraus. „Sie sind der Meinung, Großbritannien schade sich mit ihrer Ausweisung vor allem selbst“, sagt die Politikwissenschaftlerin Karolina Boronska-Hryniewiecka.

Viele streben nun ein dauerhaftes Bleiberecht an, um sich abzusichern. Die Zahl der Anträge stieg rasant. Die Bewilligung sei aber nicht garantiert, warnt die PISM-Expertin. „Es kann sich herausstellen, dass ein Großteil der Menschen, die sich in Sicherheit wähnten, sich nicht qualifiziert“, sagt Boronska-Hryniewiecka. Denn wie der Brexist im Detail abgewickelt wird, ist noch Gegenstand langwieriger Verhandlungen.

Nach neun Jahren in Großbritannien spielt auch die Polin Kalina Pulit mit dem Gedanken, zurück in ihre Heimat oder in ein anderes EU-Land zu gehen. Sie bedrückt vor allem die zunehmend angespannte Stimmung. „Der Brexit war nur der Gipfel“, meint die Künstlerin. Steigende Lebenshaltungskosten hätten die Menschen seit Längerem unzufriedener gemacht, nach dem Votum habe die Aggressivität spürbar zugenommen. „Es wirkt, als diente der Brexit vielen als Legitimation, ihren Rassismus offen zu zeigen“, sagt Kalina, die eigentlich die Multikulturalität Londons angezogen hatte.

Schon kurz nach dem Votum fanden sich in mehreren Städten rassistische Schmierereien, Polen wurden als „Parasiten“ beleidigt, die Zahl der fremdenfeindlichen Übergriffe stieg. Nicht nur gegen Polen, wie Kalina schildert. In einem Londoner Bus schüttete ein Mann über einer Frau im Hidschab sein Bier aus. Nur einer von vielen Übergriffen, die Kalina in den letzten Monaten miterlebt hat.

Trotzdem kann sie den Entwicklungen auch etwas Positives abgewinnen: „Die jungen Leute hat das Referendum zusammengeschweißt“, sagt sie und zählt Bewegungen gegen den EU-Austritt auf. Ob es sie zum Bleiben bewegt? Kalina ist sich nicht sicher. „Ich fühle mich hier nicht so gewollt, wie ich es gerne wäre“, sagt sie. „Immer öfter frage sie sich: Ist das noch ein Ort für mich?“

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