Post aus Harvard

Die USA brauchen eine Negativsteuer für Arme

Martin Feldstein Quelle: Bloomberg, Montage
Martin S. Feldstein US-amerikanischer Ökonom, Professor für Wirtschaftswissenschaften und ehemaliger Oberster Wirtschaftsberater für US-Präsident Ronald Reagan Zur Kolumnen-Übersicht: Post aus Harvard

Wie lässt sich die große Ungleichheit in den USA abbauen? Sicher nicht mit noch höheren Transfers. Die beste Sozialpolitik wäre eine negative Einkommensteuer. Von Martin Feldstein

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Flagge der USA. Quelle: dpa

Der Wahlkampf in den USA spiegelt die Sorge vieler Amerikaner angesichts der wirtschaftlichen Ungleichheit im Lande wieder – und das zu Recht. Die künftige Regierung wird die Aufgabe haben, die Armut zu verringern, ohne den Erfolg zu bestrafen.

Wie soll das gehen? Sicher nicht wie bisher. Der amerikanische Staat gibt derzeit über 600 Milliarden Dollar im Jahr für Maßnahmen aus, die den Armen helfen sollen. Das sind ungefähr vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Hälfte dieses Geld fließt in die Gesundheitspolitik. Der Rest finanziert eine ganze Reihe von Sozialgesetzen und damit letztlich Dinge wie zum Beispiel Lebensmittelgutscheine, Mietzuschüsse und Steuererleichterungen für Einkommensschwache.

Diese vier Prozent vom BIP sind ungeheuer viel, gemessen an den Gesamteinnahmen Washingtons aus der Einkommensteuer (weniger als neun Prozent vom BIP) oder auch an den Verteidigungsausgaben und allen übrigen nicht langfristig fixierten Ausgaben des Bundes (jeweils 3,3 Prozent). Was den Erfolg angeht, scheinen die vier Prozent aber ungeheuer wenig zu sein. Nach der offiziellen Statistik leben 15 Prozent aller Amerikaner in Armut, fast genau derselbe Prozentsatz wie vor 50 Jahren.

Auch wenn viele Fachleute betonen, dass solche Statistiken nur das monetäre Einkommen betrachten und fast alle staatlichen Transferleistungen ignorieren, von den Warengutscheinen bis zur Gesundheitsfürsorge. Der amerikanische Staat gewährt Altersrentnern und Hinterbliebenen besondere Sozialleistungen, und Arbeitsunfähige oder ältere Menschen profitieren von dem Krankenversorgungssystem Medicaid. Weil das Recht auf diese Leistungen unabhängig vom Einkommen oder Vermögen der Betroffenen besteht, rechnet man die Kosten nicht zu den sowieso schon hohen Ausgaben für die Armen.

Dieses ganze System müsste reformiert werden. Die unzähligen Einzelmaßnahmen mit ihren vielen Überschneidungen machen es völlig unübersichtlich. Arme Menschen, denen es helfen soll, finden sich nur schwer darin zurecht. Für die Betroffenen sinkt der Anreiz, Arbeit anzunehmen, und den Steuerzahler kostet es viel Geld.

Schauen wir uns ein Beispiel an: SNAP, die wichtigste von vielen Maßnahmen, die dafür sorgen sollen, dass arme Amerikaner genug zu essen haben. Das englische Wort „snap“ kann „Biss“ heißen oder auch „Knall“, die Abkürzung steht aber für „Supplemental Nutrition Assistance Program“ („Zusätzliche Ernährungsunterstützungsmaßnahme“). Die Sache kostet 75 Milliarden Dollar im Jahr, und mit diesem Geld werden unter 46 Millionen Menschen unterstützt, etwa jeder siebte Bewohner der USA. Eine Riesenzahl, auch wenn nach staatlicher Schätzung nur etwa 70 Prozent der Berechtigten die Leistungen in Anspruch nehmen. Die durchschnittliche Unterstützungshöhe von 130 Dollar pro Kopf und Monat ist natürlich viel weniger als der tatsächliche Lebensmittelbedarf. Es handelt sich also nicht um ein Ernährungsprogramm, sondern um Geldtransfers mit volkswirtschaftlich negativen Folgen. 

Denn Anspruch auf SNAP haben Haushalte, deren Einkommen höchstens 30 Prozent über der offiziellen Obergrenze des Armutsniveaus liegt. Für eine dreiköpfige Familie bedeutet das, dass sie im Monat höchstens 1700 Dollar verdienen darf. Oft dürfte daraus folgen, dass es sich für die Familie nicht lohnt, wenn ein zweites Familienmitglied eine bezahlte Arbeit annimmt. SNAP sorgt damit für weniger Beschäftigung und weniger Arbeitseinkommen.

Problem der Armut bleibt ungelöst

Damit widerspricht SNAP der Grundidee der großen sozialpolitischen Reform unter Präsident Bill Clinton in den Neunzigerjahren. Nachdem er sich 1996 das „Ende der Sozialhilfe, wie wir sie kennen“ auf die Fahne geschrieben hatte, arbeitete er mit dem US-Kongress ein neues Gesetz zur Armenfürsorge aus, das den Empfänger verpflichtete, eine Arbeit anzunehmen. Überdies verlor dank dieses Gesetzes jeder lebenslang jeden Anspruch auf Unterstützung, sobald er insgesamt 60 Monate Unterstützung bezogen hatte. Entsprechend sind die entsprechenden staatlichen Ausgaben seitdem signifikant gesunken, und nur die Hälfte der eigentlich anspruchsberechtigten Haushalte nimmt die Hilfe derzeit in Anspruch.

Nur das Problem der Armut bleibt ungelöst.

Also noch einmal gefragt: Wie kann man Gesetze so ändern, so dass den Armen geholfen wird und sie häufiger Arbeit aufnehmen als bisher? Es gibt eine falsche Antwort, die derzeit erstaunlicherweise viel Zustimmung erhält: das bedingungslose Grundeinkommen. Also genug Geld vom Staat für alle Haushalte, für reich und arm, für jung und alt, und ohne Ansehen sonstiger Einkommens- und Vermögensquellen. Wie viel jede Familie bekommt, hängt allein von der Zahl der Erwachsenen und Kinder im Haushalt ab.

Die Armut wäre damit beseitigt, aber das ist auch das einzig Gute an der Idee. Das bedingungslose Grundeinkommen wäre so teuer, dass es unmöglich zu realisieren ist. Selbst wenn mit seiner Einführung alle anderen sozialstaatlichen Maßnahmen bis auf die Gesundheitspolitik abgeschafft würden, lägen die zusätzlichen Kosten für die USA bei 1,5 Billionen Dollar pro Jahr – das sind mehr als neun Prozent des BIP. Ohne zusätzliche Staatsverschuldung würde das eine Verdopplung der Einnahmen aus der Einkommensteuer erfordern. Das ist offenbarer Unsinn.

Man kann den Armen ganz anders helfen: mit einer Politik, die bei uns in den USA gar nicht kontrovers sein sollte. Immerhin haben sie zwei meiner bedeutendsten inzwischen verstorbenen Kollegen vorgeschlagen, die Ökonomieprofessoren Milton Friedman und James Tobin. Friedman ist bis heute ein Idol der politisch konservativen Wirtschaftspolitiker, Tobin genießt auf der linken Seite des Spektrums ähnlichen Status. Und beide plädierten für die Einführung einer negativen Einkommensteuer zur Lösung unserer sozialpolitischen Probleme.

Die Idee lässt sich einfach erklären: Alle Haushalte mit Personen im erwerbsfähigen Alter erhalten eine bestimmte Geldsumme, die sie vor Armut schützt – dies aber nur, wenn sie kein anderes Einkommen haben. Mit steigendem Haushaltseinkommen aber sinkt dieser Betrag schrittweise. Ab einer gewissen Höhe fällt der Zuschuss ganz weg und der Haushalt zahlt Steuern an den Fiskus. Unterhalb dieses Niveaus aber ist die „Steuer“ negativ. Bis auf Maßnahmen zur Gesundheitspolitik werden sozialpolitische Maßnahmen damit überflüssig.

Verstehen Sie mich richtig: Es gibt kein Allheilmittel beim Kampf gegen die Armut. Aber manche Rezepte sind besser als andere. Die negative Einkommensteuer dürfte der realistischste Weg sein, wenn wir auf einfache, lückenlose und für den Steuerzahler erschwingliche Weise etwas gegen die Armut tun wollen.

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