Preis für Menschenrechtsaktivisten Kämpfer für Indiens Kastenlose

In Indien werden Kastenlose noch immer benachteiligt. Das will der Menschenrechtsaktivist Henri Tiphagne ändern. Nun wird er von Amnesty ausgezeichnet – in einer Zeit, da Indien über seine Kastenhierarchie diskutiert.

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Der Jurist engagiert sich seit vier Jahrzehnten für die Benachteiligten in Indien. Quelle: dpa

Berlin/Neu Delhi  Je genauer der Rechtsanwalt und Aktivist Henri Tiphagne in seinem Heimatland Indien hinschaute, desto tiefere Abgründe taten sich auf. „Menschen, die einfach verschwanden, Unruhen zwischen Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften, Gewalt gegen Frauen, Gräueltaten der Polizei, Folter“, zählt der 60-Jährige auf.
Tiphagne wollte nicht wegsehen. Statt wie geplant Arzt zu werden, studierte er Jura, um den Benachteiligten und Unterdrückten in Indien vor Gericht zu helfen. Seit vier Jahrzehnten engagiert sich Tiphagne für die Menschen, die in der größten Demokratie der Welt ihre Rechte kaum wahrnehmen können. Dafür wird Tiphagne nun mit dem Menschenrechtspreis von Amnesty International in Deutschland ausgezeichnet.

Der Zeitpunkt hätte kaum besser gewählt sein können, denn derzeit diskutiert Indien heftig über die Diskriminierung von Dalits. Das sind Menschen ganz am unteren Ende von Indiens Kastenhierarchie, die früher als Unberührbare beschimpft wurden und von vielen noch immer nicht ernst genommen werden. „Wir setzen uns für die Ärmsten der Armen ein, und von denen sind eben die meisten Dalits“, sagt Tiphagne.
In Indiens Verfassung von 1950 steht, dass niemand aufgrund seiner Kaste diskriminiert werden darf. Doch die Realität sieht oft anders aus, das machte gerade der Selbstmord eines Doktoranden an der Universität von Hyderabad deutlich. Dalit-Studenten beklagen, sie würden von Aktivitäten ausgeschlossen, müssten separat essen und wohnen. Seit mehr als einer Woche demonstrieren Menschen überall in Indien gegen die Herabsetzungen. „Leider schaut das Land erst nach seinem Tod hin“, beklagt Tiphagne.
Als einer der ganz wenigen Menschen in Indien kennt Tiphagne seine eigene Kaste nicht. Denn bei der Geburt 1956 im südindischen Tamil Nadu starb seine Mutter. Eine französische Ärztin, die in Indien Lepra-Kranke behandelt, adoptierte ihn. Als Anwalt baute er die Organisation People's Watch auf, die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, Betroffene vor Gericht vertritt und Kinder in Schulen über ihre Rechte informiert.

People's Watch sei wie viele andere Organisationen der Zivilgesellschaft in den vergangenen Jahren unter Druck geraten, sagt Michael Gottlob, Indien-Experte von Amnesty. Um den Weg frei zu machen für Unternehmen, setze sich die Regierung einfach über in der Verfassung verbürgte Rechte hinweg. Tiphagne sei massiv eingeschüchtert worden - gerade deswegen sei er nun ausgewählt worden, sagt Gottlob.
Die Autorin Palanimuthu Sivakami aus Tamil Nadu hingegen sieht es kritisch, dass ein Nicht-Dalit wie Tiphagne sich für Dalits starkmacht - und dafür dann einen Preis kassiert. „Niemand kann unser Essen an unser statt zu sich nehmen“, sagt sie. Tiphagne verhalte sich wie viele andere Leiter von Nichtregierungsorganisationen, dünkelhaft, sagt sie.
Tiphagne stimmt zu, dass die Anführer von Protestbewegungen aus den betroffenen Gruppen selbst kommen müssen. Er aber helfe Betroffenen und mache sich für die Vernetzung von Aktivisten und Nichtregierungsorganisationen stark. „Ich leite den Kampf nicht. Ich spreche darüber, etwa bei den Vereinten Nationen“, sagt Tiphagne. „Jemand, der sich der Menschenrechtsverletzungen bewusst ist, muss das einfach tun.“

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