Programm für Ex-Taliban in Pakistan Die Kinderkrieger aus dem Swat-Tal

In Pakistan haben die Taliban über Jahrzehnte Hunderttausende Kinder zu Soldaten und Attentätern gemacht. Seit einigen Jahren rehabilitiert ein Programm ehemalige Kindersoldaten – ein Besuch.

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Der Sitz der Nichtregierungsorganisation ist geschützt wie ein Militärstützpunkt. Quelle: dpa

Islamabad Die Kinder des Krieges sitzen in geordneten Reihen. Sie sind zwischen 15 und 20 Jahre alt. Sie tragen sorgfältig gebügelte, beige Hosen, gestärkte blaue Hemden und grüne Pullover. Ihre Schuhe sind blank. Ihre Rücken gerade. Eine Besucherdelegation kommt herein, viele Männer tragen Uniform. In einer einzigen, fließenden Bewegung stehen die Jungen auf und rufen „Guten Morgen!“.

Dies war einst der Nachwuchs der Taliban, radikal-islamischer Extremisten in Pakistan. Wilde Jungen, Gehilfen der Kämpfer und Schüler an den Waffen. Nun sollen sie deradikalisiert werden. Das bedeutet: Sie sollen anders denken. Anders denken über den Staat, den sie bekämpft haben. Über das eigene Leben, das einige von ihnen aufgeben wollten und über ihre Religion, die ihnen als rachsüchtig und gewalttätig vorgestellt worden war.

Draußen, hinter hohen Wachtürmen, liegt das Swat-Tal, bis 2009 eines der blutigsten Schlachtfelder im Kampf der Extremisten gegen den Staat. Der Anführer der pakistanischen Taliban, Mullah Fazlullah, stammt von hier. Hier wurde der heute berühmten Kinderaktivistin Malala Yousufzai noch 2012 von Taliban in den Kopf geschossen.

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die allein im Swat-Tal in dieser Atmosphäre radikalisiert worden sind, geht wohl in die Zehntausende. „Als ich die ersten von ihnen sah, habe ich nur gedacht: Ich will ihnen ihre Kindheit wiedergeben“, sagt die Leiterin der Nichtregierungsorganisation Sabawoon (Erste Lichtstrahlen), Fariha Paracha, bei einem Gespräch in Islamabad im Frühsommer 2016. Ein hochrangiger Soldat hatte die bekannte Kinderpsychologin um Rat gebeten, nachdem das Militär 2009 im Swat-Tal zum ersten Mal eine größere Gruppe von Kindersoldaten der Taliban festgenommen hatte.

„Wir hatten wirklich Angst vor diesen Kindern, denen man wer weiß was ins Hirn geblasen hatte“, sagt Paracha. Zu jener Zeit fand das Militär in abgelegenen Gegenden Kinder, die zu Selbstmordattentätern ausgebildet wurden. Von Tausenden wusste man, dass sie als Boten, Spione, Tellerwäscher oder Tee-Jungs der Taliban aushalfen – und gleichzeitig erste Lektionen an den Waffen erhielten.

Paracha fing an, über Deradikalisierungsansätze zu lesen. Die waren nach 2001 in einigen, vor allem muslimischen Ländern aufgekommen, in Saudi-Arabien, im Jemen, im Irak, in Marokko oder Malaysia. Erst heute werden sie vermehrt auch in Europa diskutiert. Die Ideen, die Paracha fand, klafften weit auseinander. Manche fokussierten nur auf die religiöse Umerziehung. Andere nur auf Gefängnis-Insassen. Andere waren zeitlich limitiert auf drei oder sechs Monate. Die meisten konzentrierten sich auf Erwachsene. Also hat Paracha sich ein eigenes Programm ausgedacht für die Kriegerkinder von Swat.


Ziel ist die Reintegration der Kinder

Es beinhaltet mehrere Phasen. Zuerst ist da das so genannte Screening, bei dem so viele Informationen wie möglich über das jeweilige Kind zusammengetragen werden, von ihm selbst, vom Militär. Was das Kind verschweigt, ist so wichtig, wie das, was es preisgibt.

Dann folgt die Deradikalisierungsphase. Dazu zählen psychologische Unterstützung, Schul- und Religionsunterricht, Ansätze einer Berufsausbildung, zum Beispiel zum Klimaanlagenmechaniker, Sitzungen mit den Familien der Jungen, viel Sport. Diese Phase soll möglichst gleichberechtigt die Vielzahl der Triebkräfte der Radikalisierung angehen: Armut und Mangel an Zukunftschancen für junge Leute, Bildungslücken, verzerrte Wahrnehmungen des Islam. Disziplin spielt eine große Rolle. Äußere Ordnung gegen innere Unruhe.

Dann folgt die Reintegration außerhalb des Programms, die allein bis zu zwei Jahre dauern kann. Psychologen und auch das Militär besuchen die Jungen regelmäßig. Dazu kommt es aber erst, wenn die Betreuer den Eindruck haben, dass der Jugendliche verständig auf seine Zeit mit den Islamisten zurückschauen und sich klar davon distanzieren kann.

2009 hat Sabawoon die ersten 32 Kinder aufgenommen. Es ist ein kleines Programm geblieben. Das liege daran, dass es „flexibel auf jeden einzelnen Jungen achten muss“, sagt Fariha Paracha. „Mehr ist nicht drin.“ In acht Jahren haben 226 Kinder das Programm durchlaufen. 41 von ihnen sind heute noch dort.

Ausgesucht werden die Jugendlichen vom Militär. Es hat die Kinder zum Beispiel bei Razzien festgenommen. Ansonsten hält sich sein Einfluss in Grenzen, das hat Fariha Paracha sich ausbedungen. Soldaten schützen das Zentrum, das von außen wirkt wie ein Gefängnis und sowohl die Jugendlichen drinnen als auch die radikalen Familienmitglieder draußen halten soll. Aber es sind 57 zivile Sozialarbeiter, Psychologen und Lehrer, die die Kinder betreuen.

Wie lange die bei Sabawoon bleiben, das kommt auf sie selbst an. Einige wenige bleiben nur sechs Monate. Andere sechs Jahre.

Zarin zu Beispiel, heute 18 Jahre alt, war zu Sabawoon gekommen als er 12 war. Er ist klein, mager, mit schütterem Bart und einer scheuen Art. Mit zehn Jahren hatte er sich freiwillig bei den Taliban gemeldet. „Ich fand den Lebensstil attraktiv“, sagt er mit jener Gestelztheit, die vom regelmäßigen Umgang mit Therapeuten herrührt. Er sei aber nur ein Gehilfe gewesen, betont er. Geputzt habe er.

Ein Psychologe wird später sagen, es habe Indizien gegeben, dass der Junge vom Vater, einem Talibankämpfer, für einen Selbstmordanschlag vorbereitet wurde. Der Psychologe ist nicht zufrieden. Zarin sei ein Problemkind. Erst seit zwei Jahren sei er nicht mehr gewalttätig. Nun hätte er freimütig sprechen müssen über seine Vergangenheit.

Aber auch andere Teilnehmer zucken zurück vor detaillierten Schilderungen ihrer Zeit mit den Islamisten. „Ich versuche, das zu vergessen“, sagen viele. „Das bin ich nicht mehr.“

42 Prozent erleiden einen Rückfall

Wer die Kinder sind oder im besten Fall waren, dazu haben NGO und Militär aber genaue Statistiken zusammengetragen. Ein Muster zeichnet sich ab: das Bild des leicht zu radikalisierenden Jugendlichen. Daraus geht zum Beispiel hervor, dass viele der Jungen aus Familien mit besonders vielen Kindern kamen. Mehr als die Hälfte waren mittlere Kinder. Fast zwei Drittel kamen aus armen Familien. Und: 65 Prozent der Jungen hatten keine Vaterfigur daheim.

Am aufschlussreichsten aber ist diese Zahl: 42 Prozent der Jungen bleiben „Hochrisiko-Kandidaten“, selbst wenn sie Jahre bei Sabawoon verbracht haben. Das bedeutet: Sie sind schon oder werden vermutlich zurückfallen oder zurückgezogen in die Extremistenszene. Auch hier unterscheidet Sabawoon sich von anderen Programmen der Welt, vor allem staatlichen, die oft nur eine Rückfallquote von zehn oder 20 Prozent angeben. Das sei einfach unrealistisch, sagen Experten.

Es zeigt, wie schwierig Deradikalisierung ist. Dass es dabei nicht nur auf das Kind ankommt, sondern auch auf die Umgebung, aus der ein Kind kommt oder in die es zurückkehrt. Der deutsche Radikalisierungsforscher Peter Neumann hat 2010 in einer Studie festgestellt: Am besten funktioniert Deradikalisierung dort, wo die Radikalen ihren Kampf schon verlieren.

Einige Stunden nach dem Besuch im stacheldrahtumzäunten Zentrum sitzt der Leiter der „Reintegrations-Zelle“ von Sabawoon, Mohammad Saifullah, in einem bescheidenen Haus in Mingora, Hauptstadt des Swat-Tals. Das Haus gehört dem Militär. Vorausgegangen waren erhitzte Diskussionen, ob man die reintegrierten Jugendlichen nun zuhause besuchen könne oder nicht. Das Militär war dafür. Der Psychologe dagegen.


„Man hält sie für Spione, Männer des Militärs“

„Mit einem ausländischen Besucher zu kommen, das bedeutet, sie schon wieder aus der Gemeinde herauszuheben“, hatte Saifullah sehr bestimmt gesagt. „Das gefährdet sie.“ Das gilt vor allem für die, die nicht von ihren Familien zum Militär gebracht wurden wegen ihrer Verstrickungen mit Extremisten (etwa 40 Prozent), sondern die festgenommen wurden. Viele Verwandte dieser deradikalisierten Kinder schauten sie sowieso schon skeptisch an. „Man hält sie für Spione. Männer des Militärs.“ Die Sympathie für die radikalen Religiösen sitzt immer noch tief in Swat und anderswo in Pakistan.

Drei ehemalige Teilnehmer des Programms hat Saifullah in das sichere Haus eingeladen, junge Männer mit vorsichtigen Augen. Sie bitten, mit verdecktem Gesicht fotografiert zu werden. Einige Taliban-Kommandeure suchen immer noch nach dem Nachwuchs, der ihnen weggenommen wurde. Zwei, Ahmed, 19, und Hussain, 18, haben es geschafft. Sie studieren. Ihre Familien sind froh, sie wieder daheim zu haben.

Bei Ahmed, 20, ist das anders. Nach Hause kann er nicht, die Extremisten im Dorf haben ihn, den Bekehrten, verbannt. Er bekommt Todesdrohungen. Heute studiert er Recht und Soziologie, aber lebt unter falschem Namen bei Betreuern von Sabawoon, die sich plötzlich mit ihm und anderen Jungs in der Rolle der Ersatzeltern fanden.

Das Projekt läuft nun aus. Das Tal ist ruhig. Pakistan hat mit großen Militäroffensiven landesweit viele seiner Konfliktherde ruhiger gemacht. Gleichzeitig nimmt niemand an, dass die Resultate jahrzehntelanger Radikalisierung damit ausgelöscht wären. Immer wieder punktieren große Anschläge die Ruhe. Jedes Jahr kommen Tausende neue radikalisierte junge Menschen aus den Religionsschulen des Landes. Insgesamt gab es 2015 laut dem US-Institut für Frieden sechs Deradikalisierungszentren in Pakistan, darunter Sabawoon. Wieso es nicht mehr sind, das kann niemand so recht beantworten.

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