Proteste und Streik in der Türkei - Regierung droht mit Armee
Erdoğan versteht es mit den politischen Akteuren hierzulande umzugehen wie ein Marionettenspieler. Einzig Merkel mit ihrer Idee von der privilegierten Partnerschaft, die sie der Türkei in Aussicht stellt, beweist einen etwas kühleren Kopf. Wäre sie nicht so mächtig, würde sie aufgrund ihrer Kühle gegenüber der Türkei längst viel offener von den Jürgen Trittins, Claudia Roths, aber auch den Ruprecht Polenzens und Armin Laschets in ihrer eigenen Partei und von Politikern der FDP und der SPD angegriffen oder gar mit einem bräunlichen Etikett versehen werden.
Erdoğan, der gar nicht den Anspruch an sich selbst hat, tolerant oder europafreundlich zu sein, wusste im März 2012 jedenfalls genau, dass, wenn er auf die Abholung seines Preises verzichtet, er nicht nur Zeit spart, sondern auch vermeidet, dass die 22.000 Demonstranten in Bochum ihr Forum bekommen. Und natürlich vermied Erdoğan vor allem, dass diese Minderheiten in der Türkei selbst ein europäisches und damit auch ein innertürkisches Forum bekommen.
Länderprofil Türkei
Die 75 Millionen Einwohner der Türkei sind im Schnitt unter 30 Jahre alt und konsumfreudig. Die Einkommen steigen kontinuierlich und mit ihnen der Absatz der Unternehmen.
Die Türkei hat kaum eigene Energiequellen. Energie muss teuer importiert werden. Das treibt das Handelsbilanzdefizit weiter in die Höhe.
Nach der großen Bankenkrise 2001, die zu Zinsen von über 4000 Prozent und einer Abwertung der
Lira um rund 50 Prozent führte, hat die Türkei ihren Bankensektor gründlich reformiert – so gut, dass die Kreditinstitute 2009 das beste Ergebnis in der Geschichte einfuhren.
Zwar hat sich die Inflation von teilweise über 100 Prozent in früheren Jahren deutlich verringert. Mit Raten zwischen sieben und zehn Prozent ist sie aber immer noch hoch.
Die Türkei liegt geografisch günstig: In drei Flugstunden lassen sich in alle Himmelsrichtungen über 1,5 Milliarden Menschen erreichen.
Ein Regierungschef in Ankara, der die Presse, die Justiz und die Verwaltung seines Landes und auch große Teile der Öffentlichkeit seinen persönlichen und politischen Machtstrukturen gleichschaltet, und das seelenruhig in der türkischen Öffentlichkeit und auch in den Augen der Welt, ist allerdings kein geeigneter Gesprächspartner für Verhandlungen, die einen Beitritt der Türkei zur EU zum Gegenstand haben. Erdoğan lässt die Politiker der EU reihenweise aussteigen. Sie sind ihm schlicht nicht gewachsen. Diese bisherige Unterordnungs- und Andienungspolitik, die Politik des Wegsehens und eines gespielten Nicht-ernst-Nehmens, ist gescheitert.
Keine Antworten auf die Erdoğanschen Abwege
Man hat Erdoğan mit der Kuschelpolitik Signale in die falsche Richtung gegeben und er hat verstanden, dass er machen kann, was er will und dass je mehr er macht, umso mehr respektiert wird. Es gibt eine Art unmoralische und gleichzeitig idiotische Politik in Europa, die die Bodenhaftung nicht wiederfindet. Dass Erdoğan von Islamisierung, Kopftuch, Scharia, Todesstrafe, Verachtung des Westens und dergleichen nachhaltiger gesprochen hat, ist eine Tatsache, die niemand, der in der deutschen Politik ernst genommen werden will, bestreiten kann. Dass Erdoğan nur ein guter oder schlechter Kabarettist wäre, der das alles nur zum Spaß sagt und durchführt, wäre eine unsinnige Idee.
Proteste in der Türkei dauern an
Die Evidenzen der Fehlentwicklungen der Erdoğanschen Politik und die jederzeit möglichen Analysen des Geschehens, werden von den politischen Entscheidern hierzulande traumtänzerisch ignoriert. Faktenresistent werden Popanze aufgebaut, die man gern auch strategische Ziele nennt. Zum Beispiel in der Richtung, dass die Türkei ein so wichtiger Nato-Partner sei oder dass die Türkei ein Brückenkopf Europas in den Nahen Osten und die islamische Welt hinein sei. Oder dass die Türkei für Europa ein Wirtschaftswunderland sei. Alles sehr kalte und wenig euphorisierende Zielvorstellungen, die keine Antwort auf die Erdoğanschen Abwege bieten.