Proteste gegen Erdoğan Der kranke Mann am Bosporus

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EU-Beitritt der Türkei ist zum Essential der deutschen Politik avanciert

„Das ist ja mal was“
Bei einer zweitägigen Reise besucht Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Türkei. Auffällig: Obwohl sie äußerst selten touristische oder kulturelle Ausflüge in ihr Programm einbaut, nimmt sie sich dieses Mal die Zeit dafür und drückt so ihre Wertschätzung für die Türkei auch als Kulturnation aus. Vom türkischen Tourismusminister Omer Celik lässt sie sich die frühchristliche Kulturdenkmäler in der zentralanatolischen Region Kappadokien zeigen. Quelle: REUTERS
Zum Start ihrer Reise wird der rote Teppich vor dem Airbus A 340 der Luftwaffe ausgerollt. Erstes Ziel der Kanzlerin ist der Flughafen in Gaziantep. Quelle: dpa
Die ersten Gastgeschenke gibt es schon gleich nach der Landung. Quelle: dpa
Merkel besucht hier die rund 300 deutschen Soldaten im südtürkischen Kahramanmaras. Die Soldaten sind Teil des Nato-Einsatzes mit Patriot-Abwehrstaffeln zum Schutz der Türkei vor syrischen Raketenangriffen. Quelle: dpa
Anschließend spricht Merkel zu den Soldaten: Ihr Einsatz habe einen hohen politischen Stellenwert. Er sei ein militärisches und politisches Signal, dass die Nato-Partner zusammenstünden, wenn einer von ihnen in Gefahr geraten könnte. Quelle: dpa
Weiter geht es nach Kappadokien: Ein Heißluftballon trägt ein großes Transparent mit der Aufschrift „Sehr geehrte Frau Merkel, herzlich Willkommen.“ Quelle: dpa
Merkel ist beeindruckt von den gewaltigen Felsformationen, den Höhlen und den kleinen Klöstern in den Felsen wie die vermutlich 1500 Jahre alte Johanneskirche in Cavusin. Quelle: dpa

Der Türkeibeitritt zur EU, der bisher in Ansehung der objektiven Sachlage noch nie ein diskussionswürdiges Thema gewesen ist, ist so zu einem Essential der deutschen Politik geworden. Innerhalb dieser Denkweise scheint es nur noch darum zu gehen, ein paar unwichtige, wenn auch nicht sonderlich schöne Missstände in der Türkei entweder zu negieren oder vielleicht sogar zu beseitigen.  In jedem Fall ist ein Druck vorherrschend ,die Türkei, die schließlich eine Perspektive bräuchte, besser gestern als morgen zum Vollmitglied der europäischen Gemeinschaft zu machen.

Wer sich im Westen skeptisch zu einem Türkeibeitritt äußert oder gar einen Türkeibeitritt ausschließt, riskiert sich selbst aus dem öffentlichen Diskurs heraus zu katapultieren. Er riskiert seine politische oder journalistische Karriere.

Erdoğan und seine Leute, die zu einer außerordentlich drastischen Sprache und Denkart neigen, scheinen unter EU-Beitritt der Türkei allerdings eher einen Beitritt der EU zur Türkei zu verstehen. Erdoğan betrachtet die Immigranten, die die Türkei verlassen haben, weil sie dort unter Armut, Bildungsferne und Chancenlosigkeit litten und die hierzulande nur noch als Migranten bezeichnet werden, als seine Armee hinter den Fronten, als diejenigen, die bereits auf dem Boden des Territoriums des zu besiegenden "Feindes“ integriert sind, aber sich auf keinen Fall „ assimilieren“ sein soll. Erdoğan will sich auf gut deutsch der türkisch stämmigen Deutschen bedienen, um von seinem Regierungssitz aus unmittelbar mit zu bestimmen, was die originär deutsche Politik entscheidet. Der türkische Regierungschef will also nicht nur Einfluss von außen nehmen, sondern hat in der Vergangenheit deutlich gezeigt, dass er auch Einfluss von innen heraus ausüben will.

Je offener die Tore der EU Richtung Türkei aufgestoßen wurden, desto feindseliger und dynamischer gestaltet sich Erdoğans Politik gegen Europa. Oder umgekehrt: Je dreister Erdoğan Europa vorführt, desto freundlicher und unterwürfiger fallen die Einladungen Europas Richtung Türkei aus.

Erdoğan ist ein politischer Fuchs

Diesem intolerantesten Politiker, den sich die EU als türkischen Ministerpräsidenten wünschen kann, sollte zudem 2012 der Steiger Award ("Seit 2005 jährlich in Deutschland vergebene Auszeichnungen an Persönlichkeiten, die besonderes Engagement in den Bereichen Toleranz, Charity, Musik, Film, Medien, Sport, Umwelt oder Zusammenwachsen der europäischen Staatengemeinschaft gezeigt haben." Quelle: Wikipedia) verliehen werden. Von wem? Von ehemaligen Medien-Kanzler Gerhard Schröder.

Erdoğan sagte seine Teilnahme kurzfristig mit Hinweis auf ein Militärunglück ab. Er wusste natürlich, dass es in Bochum, wo die Preisverleihung stattfinden sollte, Widerstände von in der Türkei unterdrückten Minderheiten  gegen die Preisverleihung gab. Zum Beispiel hatten Aleviten, Kurden und Armenier Protestdemonstrationen angekündigt, die sie dann trotz der Absage des türkischen Regierungschefs durchführten.

Im Beitrittsrausch der politisch-korrekte Elite in Deutschland, wären solche „Störenfriede“ wahrscheinlich sowieso ignoriert und als ewig gestrige Minderheiten beiseite geschoben worden. Die deutsche Seite hätte sich ihr Erdoğan-Fest unter keinen Umständen von den Forderungen unterdrückter Minderheiten vermiesen lassen. Die politische Klasse Deutschlands zeigt eben in Sachen Erdoğan routinemäßig eine ganz andere und in Wahrheit dunkle Seite.

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