Noch vor ein paar Monaten hätte Viktor Semenko aus Sankt Petersburg nicht gedacht, dass ihn die Krise erreicht. Nun muss der 23-jährige Verkäufer einer Luxusboutique regelmäßig Nachtschichten einlegen und alte Preise überschreiben. Wintermäntel für 6000 Euro, Daunenjacken bis zu 3000, Krawatten für mehrere 100 Euro – sobald er Preise von Euro in Rubel umrechnet, kosten Marken wie Brioni oder Armani astronomische Summen. Jeden Tag steigen die Rubelpreise höher. Der negative Höhepunkt folgte dann Anfang dieser Woche: Am Dienstag verlor die Währung in der Spitze über 20 Prozent, auch am Mittwochmorgen ging der Sturzflug der Währung weiter.
Auch in Semenkos eigenem Portemonnaie ist die Krise angekommen. Den Jahreswechsel will er mit seiner Frau in Estlands Hauptstadt Tallinn verbringen. „Ich schaue mir jeden morgen den Euro-Kurs an und hoffe, dass er gesunken ist“, erzählt der Russe. Als er die Reise vor ein paar Monaten gebucht hat, lag ein Euro noch unter 50 Rubel, am Dienstag wollten die Banken zeitweise über 100 Rubel.
Putins Folterwerkzeuge im Sanktionskrieg
Der Kreml droht damit, den Import westlicher Pkw nach Russland einzuschränken. Der russische Markt ist aber schon länger in der Krise. 2013 exportierten deutsche Hersteller 132 000 Fahrzeuge nach Russland - im Jahr davor waren es noch knapp 157 000. Bei Volkswagen liegt der Konzernabsatz in Russland nach zwei Dritteln des Jahres 12 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Unabhängig von den Sanktionen sagt ein VW-Insider: „Der Markt fliegt uns ganz schön um die Ohren.“ Die Sanktionen könnten jene Hersteller teils schonen, die in Russland in eigenen Fabriken produzieren. Der Duisburger Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer hält Importverbote deshalb für verkraftbar: „Nahezu alle wichtigen deutschen Autobauer wie VW, Opel-Chevrolet, Ford, BMW, Daimler Nutzfahrzeuge sind mit Werken in Russland vertreten.“ Der Präsident des Branchenverbands VDA, Matthias Wissmann, aber rät zum Blick über den Tellerrand: Das Thema drücke auf die Psychologie der internationalen Märkte.
Macht Moskau ernst und den Luftraum für westliche Airlines über Sibirien dicht, wäre das ein harter Schlag. Genau das hat Russlands Regierungschef Dmitri Medwedew im Sinn: „Wenn westliche Gesellschaften unseren Luftraum meiden müssen, kann das zum Bankrott vieler Fluggesellschaften führen, die schon jetzt ums Überleben kämpfen.“ Beispielsweise müssten die großen europäischen Airlines Air France-KLM, British Airways oder Lufthansa, die über Sibirien nach Asien fliegen, auf längere Routen ausweichen. Das kostet Treibstoff, Besatzungen müssen länger arbeiten. Experten gehen von etwa 10 000 Euro Mehrkosten pro Flug aus. Dies dürfte nicht ohne Folgen auf die Ticketpreise bleiben, von längeren Flugzeiten für die Kunden ganz zu schweigen. Aber: Bisher päppelte Moskau mit den Einnahmen von über 200 Millionen Euro pro Jahr aus den Überflugrechten die Staatsairline Aeroflot auf. Lachender Dritter wären wohl die Chinesen. Sie könnten dank des Sibirien-Kostenvorteils die Europäer im lukrativen Asiengeschäft noch mehr ärgern.
Bei Lebensmitteln machte Putin bereits ernst und verhängte Anfang August einen Importstopp, weil ihm erste EU-Sanktionen nicht schmeckten. Die 28 EU-Staaten, die USA, Australien, Kanada und Norwegen dürfen für ein Jahr Fleisch, Fisch, Milch, Obst und Gemüse nicht mehr einführen. Einzelne Agrarländer wie Griechenland trifft das hart. Für die deutsche Agrarbranche sind die Folgen überschaubar, sagt Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU). Um Verwerfungen im EU-Markt wegen des Überangebots zu verhindern, rief Schmidt die Verbraucher auf, mehr heimisches Obst und Gemüse zu essen: „One apple a day keeps Putin away“ (Ein Apfel am Tag hält Putin fern). Nun kündigt Moskau an, auch Produkte der Textilindustrie auf den Index zu setzen. Details sind aber unklar.
Hier hält Putin die ultimative „Waffe“ in der Hand. Dreht er den Gashahn zu, hätte Europa ein Problem. Grund zur Panik besteht aber nicht. Die Gasspeicher sind randvoll (Deutschland: 91,5 Prozent, EU-weit: 90), die Vorräte dürften zumindest in Deutschland, das seinen Gasbedarf zu mehr als ein Drittel aus Russland deckt, bis zum Frühjahr reichen. Das Baltikum und Finnland sind aber zu 100 Prozent von russischen Gasimporten abhängig, viele südosteuropäische Länder hängen auch am Gazprom-Tropf. Die Bundesregierung geht davon aus, dass Putin liefertreu bleibt, nicht auf die Export-Milliarden verzichten kann. Die knallharte Entscheidung der EU, die russischen Energieriesen Gazprom Neft, Rosneft, Transneft sowie Rüstungsfirmen jetzt vom europäischen Kapitalmarkt abzuschneiden, dürfte Putin aber mächtig reizen. Polen meldet, Gazprom liefere weniger Gas als vereinbart - was der Monopolist von Putins Gnaden bestreitet.
Die Verunsicherung ist endgültig bei den Russen angekommen. Laut einer Umfrage der Stiftung Öffentliche Meinung glaubte Anfang Dezember bereits jeder Zweite im Land, dass die Rubel-Schwäche das eigene Leben negativ beeinflusst. Seit dem "schwarzen Montag" und dem "schwarzen Dienstag" dürften sich die Werte dramatisch erhöht haben. Seit Anfang 2014 wertete die Landeswährung zum Dollar um rund zwei Drittel ab, zum Euro um mehr als die Hälfte. Im November belief sich die Inflation bei Lebensmitteln auf 12,6 Prozent zum Vorjahresmonat. Insgesamt stiegen die Preise laut Statistikbehörde Rosstat um 9,1 Prozent.
Seit der Winterolympiade in Sotschi, der Krim-Annexion und der unentschlossenen Reaktion des Westens strotzt Russland nur so vor Selbstbewusstsein. Doch selbst kremlnahe Experten wie Wladimir Mau von der Akademie für Volkswirtschaft und öffentlichen Dienst warnen: Das altbewährte Modell, wonach steigende Öleinnahmen den Konsum immer weiter ankurbeln, habe sich endgültig erschöpft.
Investoren werden nervös
Präsident Wladimir Putins politischer Kurs macht die Lage nur noch schlimmer – indem er das Land in die Isolation führt. Die Abwertung des Rubel begann bereits zu Jahresanfang, als die US-Notenbank ihre Geldpolitik straffte. Im ersten Quartal sanken die Ausfuhren deutscher Exporteure nach Russland um knapp 13 Prozent, nach fünf Monaten belief sich das Minus auf 15 Prozent.
Es folgten die Ukraine-Krise, die Annexion der Krim und mehrere Sanktionsrunden. Investoren wurden nervös, die Kapitalflucht der letzten Jahre verschärfte sich. In den ersten neun Monaten flossen 85 Milliarden Dollar ins Ausland – ein zu hoher Wert für Russland mit seinem riesigen Investitionsbedarf. Zusätzlich stoppte der Westen den Zufluss billiger Kredite aus dem Ausland. Im Sommer warnte der russische Unternehmensverband RSPP erstmals vor einer Kreditklemme.
Im Juni setzte ein massiver Preisverfall beim Erdöl ein – von 115 Dollar pro Barrel im Sommer auf rund 60 Dollar Anfang Dezember. Diese Entwicklung schlägt auf die Exporte durch. Die neuesten Daten vom Oktober zeigen, dass die russischen Ausfuhren gegenüber September bereits um sieben Prozent zurückgegangen sind. Seitdem sank der Ölpreis um ein weiteres Viertel. Russlands stellvertretender Wirtschaftsminister Alexej Wedew war sich zuletzt nicht mehr sicher, ob Russland der Rezession entgehen kann.
Für 2015 sorgt nur noch das Ausmaß der Krise für Diskussionen. Das Wirtschaftsministerium korrigierte die offizielle Prognose von plus 1,2 auf minus 0,8 Prozent. „Der wichtigste Unterschied der aktuellen Krise zu denen von 2008 und 1998 ist, dass die heutige absolut hausgemacht ist“, sagt Sergej Romantschuk, Devisenhändler bei der Metallinvestbank. Auf den Kapitalmärkten sei genug Geld vorhanden, das nach Russland fließen könnte. Aber das Geld komme nicht ins Land – einmal wegen der Sanktionen, aber auch, „weil Russland mit seinem Konfrontationskurs die Investoren verschreckt“, so der Fachmann.
Kein bevorstehender Kollaps der Wirtschaft
Vor dem Kollaps steht die Wirtschaft hingegen nicht, sagt Natalja Orlowa. Die Chefvolkswirtin der privaten Alfa-Bank rechnet nicht mit einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts. Dazu trage vor allem die neue Politik der Zentralbank bei, sich aus dem Währungsmarkt herauszuhalten.
Ein sinkender Rubel hilft die Zahlungsbilanz stabil zu halten – trotz sinkender Kaufkraft und Rezession. Der Kursverfall nimmt dem russischen Fiskus zudem die lästige Aufgabe ab, seinen Haushalt in Ordnung zu bringen. Denn in Rubel gerechnet, bleibt der Ölpreis in etwa gleich. So wirkt die Abwertung wie ein automatisches Sparprogramm der Regierung. Da auch die Budgeteinnahmen, in Rubel gerechnet, stabil bleiben, müssen Ausgaben nicht gekürzt werden, anders als in Griechenland.
Bevölkerung und Unternehmen legen indes Devisen beiseite. Berechnungen der Higher School of Economics in Moskau zeigen, dass Unternehmen allein im Oktober ihre Dollar-Reserven um fast zehn Milliarden Dollar erhöht haben. Privatpersonen bunkerten zusätzliche fünf Milliarden.
Gleichzeitig stecken viele ihr Geld in den Konsum. Trotz stagnierender Reallöhne legten die Einzelhandelsumsätze zwischen Mai und Oktober um 1,5 Prozent zu. Erst vor zwei Wochen kam es bei einer Media-Markt-Eröffnung in Moskau zu tumultartigen Szenen. Der Elektronikhändler hatte 400 neue iPhones zum alten Preis im Angebot, obwohl Apple in seinem Online-Geschäft die Preise wenige Tage zuvor um ein Viertel angehoben hatte. Inzwischen hat der Technologiekonzern seinen Internethandel gestoppt; zu groß seien die Währungsschwankungen, zu unsicher die Preisangaben des Unternehmens, hieß es aus den USA.
Auch wenn iPhones nach wie vor ein Renner sind: Die steigende Nachfrage wird wohl ein Strohfeuer bleiben. Spätestens, wenn der schwache Rubel in den nächsten Wochen mehr und mehr auf die Verbraucherpreise durchschlägt. Einen ähnlichen Effekt befürchten Experten auch für Russlands verarbeitende Industrie, die laut Higher School of Economics zwischen Mai und Oktober ein überraschendes Plus von 2,3 Prozent hinlegte.
Jaroslaw Lissowolik, Chefvolkswirt der Deutschen Bank in Moskau, warnt: „Die Unterstützung des schwachen Rubel für die heimischen Hersteller wird von Krise zu Krise geringer.“ Das Wachstum konzentriere sich auf Bereiche mit freien Kapazitäten und werde sich erschöpfen, sobald diese belegt seien.
Was ist „Neurussland“?
In der Ostukraine haben prorussische Separatisten im Mai ihre „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk zu „Neurussland“ vereinigt. Auch Russlands Präsident Putin verwendete mehrfach diese Bezeichnung. Sie hat einen historischen Ursprung.
Mitte des 18. Jahrhunderts wurde ein Militärbezirk nördlich des Schwarzen Meeres so genannt. Neurussland reichte damals von Bessarabien (heute die Republik Moldau) bis zum Asowschen Meer. Zentrum war Krementschuk, etwa 300 Kilometer südöstlich von Kiew. Zur Zeit der Feldzüge gegen die Türken und das Krim-Khanat sollte die Ansiedlung russischer und ukrainischer Bauern sowie ausländischer Siedler das Grenzgebiet stabilisieren.
1764 bildete Zarin Katharina die Große das „Neurussische Gouvernement“. Nach der Eroberung der Krim verlor Neurussland seine strategische Bedeutung und wurde rund 20 Jahre nach der Gründung wieder aufgelöst. Zar Paul I. bildete 1796 erneut ein kurzlebiges Verwaltungsgebiet Neurussland um den Hauptort Noworossisk, dem heutigen Dnjepropetrowsk.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde ein russisches „Generalgouvernement Neurussland-Bessarabien“ geschaffen. Von 1818 bis etwa 1880 wurden wieder ausländische Siedler angeworben. Auch aus deutschsprachigen Gebieten kamen viele Menschen in die Steppen Neurusslands. Die Dörfer dieser „Schwarzmeerdeutschen“ existierten bis zu den Deportationen in der Stalin-Zeit.
Neue Kredite
Vor allem fehlen Mittel für Investitionen. An neue Kredite kommen russische Unternehmen nur für teures Geld – und infolge der Sanktionen gehen für die Tilgung der Verbindlichkeiten im Ausland große Summen drauf. Zwar sei das Schuldenproblem nicht ganz so groß wie befürchtet, sagt Experte Sergej Romantschuk.
Große Teile der Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland seien Schulden gegenüber eigenen Offshore-Gesellschaften, deren Aktionäre letztendlich wieder Russen sind. So konnte etwa die Hälfte der fälligen Verpflichtungen im laufenden Jahr verlängert werden.
Die nötigen Zahlungen von 150 Milliarden Dollar für 2015 seien bei Devisenreserven in Höhe von 416,5 Milliarden Dollar kein Problem. Letztlich reicht dies aber nur, um den Kollaps abzuwenden. „Ein Neustart für das russische Wachstum ist nur durch Abschaffung der Sanktionen möglich“, sagt Romantschuk. Dafür braucht es politische Einsicht seitens des Kremls, was im Moment kaum jemand erwartet.
Trotzdem sorgt sich Verkäufer Viktor Semenko nicht um seinen Job, denn irgendwie geht es in Russland immer weiter: „In den Neunzigerjahren kaufte bei uns die Mafia ein, dann kam der Crash 1998, die Krise 2008“, sagt er, „und jedes Mal haben unsere Chefs es irgendwie überstanden.“