Putins „Direkter Draht“ „Der Zar spricht zum Volk“

Drei Millionen Fragen sollen die Russen eingeschickt haben, nur wenige werden in Putins TV-Sprechstunde gestellt. Gefährliche Themen bekommen wenig Raum – und bei der Frage nach der Kandidatur weicht der Präsident aus.

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„Der direkte Draht“ war ein Art Wahlkampfauftakt des russischen Präsidenten. Quelle: dpa

Moskau Plötzlich zeigt sich Wladimir Putin von einer ganz anderen Seite. Er sei vor kurzem zum zweiten Mal Großvater geworden, erzählt der sonst so unnahbare, distanzierte russische Präsident. Ein freudiger Applaus schwappt durch das Moskauer TV-Studio, die Moderatorin lächelt. Es menschelt bei Putins traditioneller Bürgersprechstunde. Neun Monate vor der Präsidentenwahl 2018 inszeniert sich der Kremlchef als Helfer in der Not, als sorgsamer Opa. Putin, heute Großvater der Nation, hat für alle ein offenes Ohr.

Wie geht es weiter mit Russland angesichts von Wirtschaftskrise, steigenden Preisen und vielen lokalen Problemen? „Ich möchte gerne eine positive Antwort geben“, sagt Putin. Ganz Volkstribun holt er zu ausführlichen, mit Fakten gespickten Antworten aus.

Die Innenpolitik dominiert. Denn vor der Präsidentenwahl im März steht Putins beliebte TV-Show „Direkter Draht“ schon im Zeichen des Wahlkampfs, auch wenn er sich noch immer zu seiner von allen erwarteten Kandidatur bedeckt hält. Die Frage nach seiner Kandidatur scheint so klar zu sein, dass sie erst als letzte fällt in der vierstündigen Sendung. Doch Putin – schwarzer Anzug, violette Krawatte – grinst nur und weicht aus, um dann doch noch zu antworten: „Das muss der Wähler entscheiden, das russische Volk. Ich selbst werde mich irgendwann entscheiden.“

Der Soziologe Andrej Koljadin meint, es wäre ein Fehlstart für Putins Wahlkampf gewesen, wenn er seine Kandidatur angekündigt hätte. Doch Themen zu setzen, dafür sei der Auftritt wichtig. Für den Kreml sei die Sendung ein wertvolles Instrument, meint der Experte Dmitri Badowski. „Der direkte Draht beschafft umfangreichstes und einzigartiges soziologisches Material, um die Stimmung in der Bevölkerung zu analysieren“, sagt er der Zeitung „Iswestija“.

Was dem Präsidenten aus rund drei Millionen eingereichten Fragen präsentiert wird, sind Sorgen um Jobs, Geld und die Zukunft. Drohen russische Hackerangriffe bei der Bundestagswahl? Wie steht es um den Doping-Skandal? – Fragen, die dem Westen unter den Nägeln brennen, spielen bei der Fragestunde der Bürger erwartbar keine Rolle, Außenpolitik wird kaum angesprochen.

Fragen mit Sprengstoff gibt es dafür umso mehr, die den Kremlchef ins Schwitzen bringen könnten. Doch die gefährlichen Themen fallen kurz aus. Da wäre etwa das umstrittene Renovierungsprojekt in Moskau. Tausenden Wohnhäusern droht die Abrissbirne. Bis zu 1,6 Millionen Menschen bangen um ihre Bleibe und fürchten, aus ihrer zentralen Wohnlage in die Bettenburgen am Stadtrand gedrängt zu werden.

Das Prestigeprojekt von Bürgermeister Sergej Sobjanin hat breiten Protest ausgelöst. Dass ihm das Thema bei der Wahl um die Ohren fliegen könnte, weiß Putin. „Mir ist wichtig, dass die Rechte der Bürger nicht verletzt werden, vor allem das Eigentumsrecht“, beschwichtigt er. Mit Gewalt dürfe das Projekt nicht umgesetzt werden. Putin hat es in der Hand, seine Unterschrift steht noch aus.

Auch die jüngste Protestwelle der Opposition gegen Korruption ist sicher kein Lieblingsthema des auf Stabilität bedachten Kremlchefs. Im Ausland haben die Massenfestnahmen bei der Kundgebung seines Widersachers Alexej Nawalny diesen Montag Kritik ausgelöst. Es war bereits die zweite Demonstration seit Ende März, bei der die Polizei hart vorging und landesweit mehr als 1.000 Menschen festnahm.

Putin legt die Stirn in Falten. Er sei zu Gesprächen mit jedem bereit, der konstruktiv auftrete, sagt er schmallippig. Zu den Festnahmen kein Wort.

Stattdessen gibt es in der Putin-Show auch mal Geschenke. Eine alleinerziehende Mutter ruft an, ihr Haus sei abgebrannt. „Wladimir Wladimirowitsch, bitte tun Sie etwas, damit wir eine neue Wohnung bekommen“, bittet sie. Putin gibt sich überrascht und weist die Behörden an, die Lage zu prüfen. Wenige Minuten später meldet die Gouverneurin der Region Transbaikalien gehorsamst: „Wir helfen der unglücklichen Frau und führen die Anweisung unseres Präsidenten aus.“

„Der Zar spricht zum Volk“, kommentiert Alexander Golz von der kritischen Internet-Zeitung „Jeschednewny Journal“ die Sendung bissig. „Wenn die demokratischen Abläufe nicht funktionieren, werden sie durch Rituale ersetzt.“ Ob es auch im nächsten Jahr den rituellen „Direkten Draht“ mit Putin geben wird? „Wenn es einen Draht gibt, wird er direkt sein“, sagt Putin und verlässt die Bühne.

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