Rede zur Lage der EU Junckers Vermächtnis

Der Präsident der EU-Kommission hat in seiner Rede zur Lage Europas eine Vision gezeichnet, die nicht allen gefallen dürfte: Vor allem Deutschland könnte mit einigen Punkten ein Problem haben.

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Jean-Claude Juncker fordert ein Ende der Kleinstaaterei. Quelle: Reuters

Brüssel Optimismus, Wagemut und der feste Glaube an die europäische Sache: Das hat der EU-Kommissionspräsident in seiner jährlichen Rede zur Lage der Europäischen Union am Mittwochvormittag vermittelt. Eine Selbstverständlichkeit ist das nicht.

Vor einem Jahr erlebten die Europäer am selben Ort zur selben Zeit noch einen ganz anderen Jean-Claude Juncker: Die EU sei „in keinem guten Zustand“, hatte der Kommissionchef damals verkündet. Der Aufstieg von EU-feindlichen Rechtspopulisten wie Marine Le Pen, das britische Votum für den EU-Austritt, der heillose Streit der EU-Staaten um die Verteilung von Flüchtlingen und die Demontage des Rechtsstaats in Polen und Ungarn erschütterten die EU damals in ihren Grundfesten. Das war Junckers Rede zur Lage der EU im Jahr 2016 deutlich anzumerken.

Ein Jahr später geht es Europa  wieder besser. Die Briten wollen die Staatengemeinschaft zwar immer noch verlassen. Polen und Ungarn legen immer noch Hand an Grundpfeiler ihres Rechtstaates. Doch es gibt auch wieder gute Nachrichten: Das Wirtschaftswachstum hat sich stabilisiert, die Arbeitslosigkeit geht zurück, sogar in Südeuropa. In Frankreich, Österreich und den Niederlanden haben proeuropäische Politiker die Nationalpopulisten geschlagen und die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer nehmen rapide ab.

Europa fasst neuen Mut. Und der Präsident der Europäischen Kommission prescht mit neuer Energie in Richtung Zukunft. Was der Luxemburger dazu am Mittwoch vortrug, klang auch schon ein wenig wie sein europapolitisches Vermächtnis. Viel Zeit bleibt dem 61-Jährigen nämlich nicht mehr, um die EU zu gestalten: In weniger als zwei Jahren endet seine Amtszeit und ein zweites Mal kandidieren will er nicht. Das hat Juncker noch einmal bekräftigt.

Für die 16 Monate, die ihm noch bleiben, hat sich Juncker eine Menge vorgenommen: Er will es schaffen, dass die EU vor allem in zwei Bereichen damit beginnt, enger zusammenzurücken: In der Außen-und Sicherheitspolitik und in der Wirtschafts- und Steuerpolitik. Auf beiden Feldern sind die EU-Staaten derzeit noch weitgehend souverän. Entscheidungen auf europäischer Ebene können nur einstimmig fallen. Ein Veto genügt, um EU-Gesetze auszubremsen. Das will Juncker ändern.

„Wir brauchen in der Außenpolitik Mehrheitsentscheidungen“, sagte er. Mit der Verteidigungsunion müssten die Europäer nun ebenfalls schnell vorankommen. Auch in der Steuerpolitik müsse es mit der europäischen Kleinstaaterei jetzt vorbei sein. EU-Gesetze zur Körperschaftsteuer, zur Besteuerung digitaler Unternehmen und zur Mehrwertsteuer müssten gleichfalls künftig mehrheitlich gefasst werden. Sonst komme man in diesen Bereichen nicht voran, so Juncker.

Recht hat der erfahrene Europapolitiker damit zweifellos. Ob er auch Recht bekommt, ist eine andere Frage: In der Außenpolitik hüten große Länder wie Frankreich und Deutschland eifersüchtig ihre nationale Souveränität. In der Steuerpolitik wiederum sind es vor allem kleine Länder wie Luxemburg oder Irland, die sich EU-Mehrheitsbeschlüssen keinesfalls unterwerfen wollen. Dass Juncker diese Widerstände in seiner verbleibenden Amtszeit noch überwindet, ist so gut wie ausgeschlossen. Es ist sogar gut möglich, dass er die Erfüllung seiner ehrgeizigen Wünsche gar nicht mehr erleben wird.


Was sagen Merkel und Macron dazu?

Das gilt auch für seine Forderung, einen starken Europapräsidenten an die Spitze der Staatengemeinschaft zu stellen und dafür zwei Ämter zu verschmelzen: Den Chef der EU-Kommission und den Präsident des Europäischen Rates. Letzterer, derzeit heißt er Donald Tusk, vertritt in Brüssel die Interessen der EU-Regierungschefs – durchaus auch mal gegen die EU-Kommission. Ob Angela Merkel, Emmanuel Macron und andere jemals bereit sind, auf ihren Brüsseler Statthalter zu verzichten, ist nicht sicher.

Auf der europäischen Brücke solle nur ein Kapitän stehen, damit die Europäische Union für die Bürger verständlicher werde, meint Juncker. Damit mag er durchaus Recht haben. Das komplizierte institutionelle Gefüge macht die EU für viele Bürger zum Buch mit sieben Siegeln. Junckers Vereinfachung würde die sorgfältig austarierte Machtbalance zwischen den EU-Institutionen – auf der einen Seite EU-Kommission und Europaparlament , auf der anderen die EU-Mitgliedstaaten – allerdings sofort aus dem Gleichgewicht bringen – und zwar zugunsten der Brüsseler EU-Institutionen.

Das gilt auch für Junckers Ideen zur Reform der Währungsunion: Der EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung soll in Personalunion Chef der Eurogruppe und Herr über den zu einem Europäischen Währungsfonds aufgewerteten Euro-Rettungsfonds ESM werden. Ob Deutschland und Frankreich dabei jemals mitmachen, ist höchst zweifelhaft. Zum aktuellen EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici hat die Bundesregierung keinerlei Vertrauen, niemals würde sie ihm mehr Befugnisse übertragen. Moscovici hat die Haushaltsvorschriften des Stabilitätspaktes sehr großzügig ausgelegt und dem hoch verschuldeten Italien immer wieder Ausnahmen zugestanden.

Das Bundesfinanzministerium würde der Kommission deshalb am liebsten die Haushaltsüberwachung der Euro-Zone ganz entziehen und dem ESM zuschlagen. Eine stärkere Rolle der Kommission an der Spitze der Währungsunion kann sich in der CDU/CSU niemand vorstellen, in der FDP erst recht nicht und selbst in der SPD gibt es Bedenken. Bei der künftigen Bundesregierung wird Juncker für seine Vorschläge daher kaum die erforderliche Unterstützung finden.

Doch wie schon Goethe sagte: Wenn nicht alle Blütenträume reifen, muss das kein Grund zur Verzweiflung sein. Juncker hat mehr von Europa erlebt und mehr Europa gestaltet als jeder andere amtierende EU-Regierungschef und EU-Präsident. Dabei habe er auch gelitten und sei manchmal fast verzweifelt, räumte Juncker an diesem Mittwoch ein. Den Tiefpunkt hat er inzwischen überwunden und schaut wieder optimistischer in die Zukunft. Der EU-Kommissionspräsident hat seine Vision für Europa vorgelegt. Andere müssen sich nun daran abarbeiten. Das ist gut so.

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