Referendum in der Türkei Absolute Macht für Erdogan

Das zweifelhafte Abstimmungsergebnis zeigt: Die Türkei unter Erdogan ist tief gespalten. Doch statt sich um die Krisen zu kümmern, wird der Präsident seine Macht ausbauen. Das Land wird immer instabiler. Ein Kommentar.

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Die neue Macht des Staatschefs wird das Land nicht aus der Krise helfen. Quelle: dpa

Recep Tayyip Erdogan hat die Volksabstimmung über sein geplantes Präsidialsystem knapp gewonnen. Der Staatschef erklärte sich am Sonntagabend noch vor dem Ende der Stimmenauszählung zum Sieger – wohl auch, um jeden Zweifel an dem Resultat von vornherein auszuräumen. Erdogan verspricht seinem Land jetzt „mehr Stabilität“. Zunächst aber könnte es weitere Turbulenzen geben – und noch eine Abstimmung.

Ein Triumph sieht anders aus. Beim Verfassungsreferendum bekam Erdogan weniger Zustimmung als bei seiner Direktwahl zum Staatspräsidenten 2014. Überdies stehen schwere Vorwürfe im Raum: Die Opposition spricht von Wahlfälschung. Es soll erhebliche Unregelmäßigkeiten bei der Stimmenauszählung gegeben haben. War das Ja in Wirklichkeit ein Nein? Eines ist sicher: Erdogan wird sich diesen „Sieg“ nicht nehmen lassen. Dafür steht für ihn zu viel auf dem Spiel.

Seit er 1994 zum Istanbuler Oberbürgermeister gewählt wurde, hat Erdogan zwölf Wahlkämpfe geführt – und keinen verloren. Der Sieg vom Sonntag, so fragwürdig er auch zunächst erscheinen mag, ist sein bisher wichtigster Erfolg. Denn er beschert ihm die absolute Macht. Was der Ausgang der Abstimmung für die Türkei und für Europa bedeutet, lässt sich allerdings noch gar nicht absehen.

Erdogans Strategie der politischen Polarisierung ist ein weiteres Mal aufgegangen, wenn auch nur sehr knapp. Er setzte im Wahlkampf auf die Sehnsucht vieler Türken nach einem starken Mann, der das Land zu neuer Größe führt. Damit bediente der Staatschef, der sich selbst aus einfachsten Verhältnissen an die Staatsspitze emporkämpfte, einen weit verbreiteten Minderwertigkeitskomplex. Erdogan zeichnete das Bild einer im Ausland von Feinden umgebenen und im Innern von Verschwörern und Spionen bedrohten Türkei. Er dämonisierte die Europäer als „Nazi-Überbleibsel“ und rückte die Kritiker des geplanten Präsidialsystems in die Nähe von Terroristen.

Dass Erdogan damit durchkommen konnte, ist auch ein Ergebnis der europäischen Türkei-Politik – sofern es eine solche überhaupt gibt. Mehr als ein Jahrzehnt lang hat die EU die Türkei sträflich vernachlässigt. Für die zunehmend autoritären Tendenzen unter Erdogan schien sich niemand zu interessieren. Schließlich brauchte man das Land in der Nato als Bollwerk an der Grenze zum Nahen Osten und in der EU als Schleusenwärter in der Flüchtlingskrise. Diese zynische Politik der Europäer haben die demokratischen Reformkräfte in der Türkei mit Recht als Verrat empfunden. Erdogan spielte das in die Hände. Er konnte die Opposition kleinhalten und die Europäer zu Feinden der Türkei stilisieren.

Das enge Abstimmungsergebnis zeigt: Die Türkei ist unter Erdogan zu einem tief gespaltenen Land geworden. Was kommt jetzt auf die Türken zu? Erdogans fanatisierte Anhänger stimmten bereits am Sonntagabend die ersten Jubelchöre an. Die Opposition innerhalb und außerhalb des Parlaments dürfte hingegen darauf hoffen, dass der Druck vielleicht nun etwas weicht und Erdogan die Daumenschrauben lockert. Schließlich hatte er noch am vergangenen Freitag versichert, er respektiere auch die Nein-Wähler. Doch schon nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt im August 2014 hatte Erdogan versprochen, er wolle ein Präsident „aller Türken“ sein – nur um dann noch schärfer gegen seine Kritiker vorzugehen. Dass Erdogan jetzt versöhnt statt weiter zu spalten, ist vor dem Hintergrund dieser Erfahrung unwahrscheinlich.

Die nächsten Schritte sind vorgezeichnet. Als erstes wird Erdogan nun in die von ihm mitbegründeten Regierungspartei AKP zurückkehren und sich auf einem Sonderparteitag wieder zum Vorsitzenden wählen lassen. Er ist dann Staatsoberhaupt und Parteichef in Personalunion. Die anderen Verfassungsänderungen werden schrittweise umgesetzt. Die ersten gemeinsamen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sollen regulär am 3. November 2019 stattfinden. Dann würde das Amt des Premierministers abgeschafft, und alle seine Befugnisse gingen auf den Präsidenten über. Erst dann bekäme Erdogan die volle Machtfülle des Präsidialsystems.

Wahrscheinlich wird er aber nicht so lange warten, sondern die Wahlen vorziehen, auch vor dem Hintergrund wachsender Arbeitslosenzahlen und steigender Inflation. Je länger Erdogan zuwartet, desto weiter könnte sich die Wirtschaftslage verschlechtern – und seine Wahlchancen schmälern. Jetzt kann er noch hoffen, mit dem Rückenwind des gewonnenen Referendums eine Zweidrittelmehrheit im nächsten Parlament zu erreichen und so seine Macht weiter auszubauen. Denn die Kurdenpartei HDP, deren Führung hinter Gittern sitzt, und die ultra-nationalistische MHP, die in der Präsidialfrage tief gespalten ist, könnten an der Zehnprozenthürde scheitern.


Der Fluch der Macht

Ob Erdogan seiner neuen Machtfülle wirklich froh wird, steht aber auf einem anderen Blatt. Die Türkei ist in keinem guten Zustand. Dem Boom am Bosporus, der dem Land in der ersten Erdogan-Dekade Wachstumsraten von durchschnittlich sechs Prozent pro Jahr bescherte, geht die Puste aus. Die Arbeitslosigkeit ist auf dem höchsten Stand seit sieben Jahren, die Inflation befindet sich gar auf einem 16-Jahreshoch. Ausländische Investoren wenden sich ab. Auch das heiße Geld, auf das die Türkei zum Ausgleich ihrer Leistungsbilanz angewiesen ist, macht einen Bogen um das Land.

Die Türkei steckt tief im Treibsand der Bürgerkriege in Syrien und im Irak. International ist sie nicht nur im Westen isoliert. Auch im gerade erst wieder reparierten Verhältnis zu Russland gibt es wegen Erdogans Syrienpolitik neue Spannungen. Der Kurdenkonflikt ist wieder aufgeflammt. Die Terrorwelle der beiden vergangenen Jahre hat das Land zermürbt, die Touristen bleiben weg. Der Putschversuch vom vergangenen Juli zeigte, wie labil die innenpolitische Lage ist. Die hernach von Erdogan angeordneten Massenentlassungen von mehr als 130.000 Staatsdienern haben die öffentliche Verwaltung und insbesondere die Justiz geschwächt.

Das Verhältnis zur EU ist nach Erdogans europafeindlichen Wahlkampftiraden schwer beschädigt. Wie es repariert werden kann, ist bisher nicht zu erkennen, zumal Erdogan nun auch noch die Todesstrafe wieder einführen will – eines seiner Lieblingsthemen seit dem Putschversuch. Macht er damit Ernst, wäre die Türkei nicht ihren Status als EU-Beitrittskandidat los, sondern auch ihren Sitz im Europarat.

Erdogan mag das nicht kümmern. Aber für die türkische Wirtschaft ist die schrittweise Abwendung von Europa eine verhängnisvolle Entwicklung. Die EU ist für die Türkei nicht nur der wichtigste Handelspartner. Auch die meisten ausländischen Investitionen kommen von dort. Vor allem die europäische Perspektive und die Zollunion machten die Türkei in der Vergangenheit attraktiv für ausländische Investoren.

Diese Geschäftsgrundlage ist nun infrage gestellt. Viele türkische Wirtschaftsführer stehen Erdogans ungezügeltem Machtstreben und dem Präsidialsystem kritisch gegenüber. Sie hofften dennoch insgeheim auf ein Ja beim Verfassungsreferendum, weil sie sich davon politische Stabilität und Berechenbarkeit versprachen. Doch diese Erwartung könnte täuschen. Die Türkei bleibt im Krisenmodus.

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