Referendum in der Türkei „Würdet Ihr Eure Kinder in einen Bus ohne Bremsen setzen?“

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Erdogan stellt Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht


Sechs Tische sind mitten im öffentlich zugänglichen Ankunftsbereich des internationalen Terminals am Istanbuler Atatürk Airport aufgestellt. Keine Kabinen, kein Sichtschutz. Viele Türken, die gerade den Sicherheitsbereich des Flughafens verlassen haben, bleiben spontan stehen und setzen sich nach einem kurzen Gespräch mit einem der Wahlhelfer an einen Tisch, um ihren Stempel bei 'Evet' oder 'Hayir' zu hinterlassen. Es scheint, als würden viele kurzfristig von der Möglichkeit Gebrauch machen. Es ist wahrscheinlich, dass diese Wähler auch sehr spontan entscheiden, wofür sie überhaupt wählen werden.

Präsident Erdogan weiß das. Er hatte noch am letzten Wahlkampftag für den Fall seines Sieges beim Referendum die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht gestellt. „Die Entscheidung morgen wird den Weg dafür öffnen“, sagte Erdogan am Samstag vor jubelnden Anhängern, die in Sprechchören die Todesstrafe forderten. Er warb zugleich um massenhafte Zustimmung zu seinem Präsidialsystem bei dem Referendum am Sonntag.

Gegner wie die sozialdemokratische CHP und die pro-kurdische HDP warnen vor einer zunehmend autoritären Führung. Ein Präsident mit derart großer Machtfülle würde sich wie ein Sultan gebärden, befürchten Viele. Demokratie, Pressefreiheit und Menschenrechte seien in Gefahr. Auch Ökonomen sind skeptisch. Die Regierung habe mehrfach zugesagt, nach der Wahl würden Reformen begonnen und Anleger würden zurückkehren, sagt William Jackson von Capital Economics in London. „Wir haben nie gesehen, dass etwas passiert wäre – das war in den vergangenen sechs oder sieben Jahren so. Ich bin da nicht sehr optimistisch.“

In Istanbul marschierten Tausende Unterstützer des „Nein“-Lagers am Bosporus entlang. Wie bei den Auftritten von Erdogan und Kilicdaroglu wurden auch hier unzählige Türkei-Fahnen geschwenkt. „Wir wollen Frieden, Freiheit, Demokratie. Wir werden das mit einem „Nein“-Votum erreichen“, sagte die Abgeordnete Pervin Buldan von der prokurdischen Oppositionspartei HDP. Sie trat auf einer Kundgebung in der überwiegend kurdischen Provinz Diyarbakir auf.

Oppositionsführer und CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu warnte am letzten Wahlkampftag in Ankara: „Morgen werden wir unsere Entscheidung treffen: Wollen wir ein demokratisches parlamentarisches System, oder wollen wir ein Ein-Mann-Regime?“ Er appellierte an die Wähler: „Würdet Ihr Eure Kinder in einen Bus ohne Bremsen setzen? Schützt die Demokratie, wie ihr Eure Kinder schützen würdet.“

Türkische Behörden gaben im Vorfeld des Referendums bekannt, dass exakt 251.788 Polizisten sowie 128.455 Sicherheitskräfte der Gendarmerie für die Wahl eingesetzt würden. Weitere 170.00 Polizisten seien einzig dafür abbestellt, um Kraftwerke und Überlandleitungen zu überwachen. Hinzu kommen noch einmal 51.148 Dorfwächter und 18.675 freiwillige Sicherheitswächter, die vor allem in ländlichen Provinzen für Ordnung sorgen sollen. Die Terrormiliz IS hatte in ihren Propagandapublikationen Anfang des Monats zu „Anschlägen gegen das Referendum“ aufgerufen.

Statt auf Terror mussten sich Oppositionelle im Vorfeld der Wahl vielmehr auf Schikane gefasst machen. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kritisierte im Vorfeld des Referendums unfaire Bedingungen. Ein Teil des Wahlkampfes verlief über Desinformation, vor allem aus dem Lager der Befürworter einer überarbeiteten Verfassung. So hieß es auf kleineren Wahlveranstaltungen, die Gegner des Referendums seien auch gegen technische Fortschritte wie den Bau des dritten Istanbuler Flughafens, in Moscheen wurden laut Schilderungen in der türkischen Tageszeitung Hürriyet Nein-Wähler teilweise als Ungläubige abgetan.

In der westtürkischen Küstenstadt Ayvalik sorgte eine ganz andere Form der Wahlpropaganda für Aufsehen. Als eine oppositionsnahe türkische Nicht-Regierungs-Organisation in den Ort fuhr, um die Bürger über diese und andere Mythen aufzuklären, schallte es aus den Lautsprechern des Muezzins: „Fremde haben das Dorf betreten. Lasst Eure Türen geschlossen.“

Ob diese Art Wahlkampfhilfe am Ende nützt oder nicht, ist unklar. Das Zünglein an der Waage könnte die kurdische Bevölkerung darstellen, von denen vor allem in den Anfangsjahren der Partei viele die AKP gewählt haben. Mit etwa 20 Prozent Anteil an der Bevölkerung stellen sie die größte Minderheit in der Türkei. Stärkste Kraft in ihrer Region im Südosten ist die HDP, der 2015 mit einem Anti-Erdogan-Kurs der Einzug ins Parlament gelang. Auch Erdogans AKP genießt unter konservativen Kurden aber Unterstützung. Die Provinz Diyarbakir hat 2015 elf Abgeordnete nach Ankara geschickt: Neun von der HDP und zwei von der AKP.

Ziya Pir kämpft dafür, kurdische „Ja“-Sager zum Umdenken zu bewegen. Seit 2015 ist der Deutsch-Türke HDP-Abgeordneter für Diyarbakir. „Wir haben Schwierigkeiten, die Menschen zu mobilisieren“, räumt er ein. Pir beklagt „Schikanen“ der Polizei bei Wahlkampfveranstaltungen. Innenminister Süleyman Soylu prahlt damit, das Wahlkampflied der HDP mit dem Titel „Na“ - kurdisch für „Nein“ - kurzerhand verboten zu haben. „Passt auf, sobald Ihr ihnen Spielraum lässt, vermehren sich die Aasgeier überall in diesem Land“, warnte Soylu kürzlich.

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