Referendum in der Türkei „Ich habe noch nie so eine undemokratische Wahl gesehen“

Tag der Entscheidung: Wird das von Erdogan ersehnte Präsidialsystem am 16. April eingeführt oder nicht? Der türkische Staatschef lässt nichts unversucht, um ausreichend Stimmen zu gewinnen. Doch es gibt auch Widerstand.

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Erdogan wirbt nicht nur in Ankara für das Referendum. Auf Staatskosten reist er in jede Provinz, um die Wählerschaft zu überzeugen. Quelle: dpa

Istanbul „Eine Nation!“, ruft Recep Tayyip Erdogan vor jubelnden Anhängern. „Eine Flagge! Ein Vaterland! Ein Staat!“ Dieses Stakkato darf bei keiner der vielen Wahlkampfauftritte des türkischen Staatschefs fehlen. Erdogans Appelle an die Einheit des Volkes sind aber schon lange nur noch ein frommer Wunsch. Tief gespalten sind die Türken über Erdogan selber - und vor allem über die Frage, wie viel Macht der Präsident künftig haben soll. Die Entscheidung wird am 16. April in einem historischen Referendum fallen: Dann stimmen die Türken über das von Erdogan so dringlich ersehnte Präsidialsystem ab.

Der Staatschef gab kürzlich als Wunschziel mehr als 60 Prozent „Ja“-Stimmen aus. Meinungsumfragen lassen bislang allerdings auf keinen klaren Sieg eines Lagers schließen - obwohl Erdogan und seine AKP alles mobilisieren. Erdogan jettet auf Staatskosten fast jeden Tag in eine andere Provinz, um dort für sein Präsidialsystem zu werben und um Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu mit Spott zu überziehen. Die meisten Medien sind längst auf Regierungskurs gebracht worden und berichten, was von ihnen erwartet wird.

Der Türkei-Experte Gareth Jenkins vom Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik (ISDP) lebt seit 1989 in dem Land, er sagt: „Seit ich in der Türkei bin, habe ich noch nie eine so undemokratische Wahl gesehen.“ Dennoch lässt sich die „Nein“-Seite nicht entmutigen. Freiwillige erklären Bürgern an Ständen, dass die Verfassungsreform aus ihrer Sicht zur Ein-Mann-Herrschaft führen könnte. Dazu gehört Mut. Dass der Ausnahmezustand - der die Versammlungsfreiheit einschränkt und langen Polizeigewahrsam ermöglicht - vor dem Referendum aufgehoben werden könnte, davon ist längst nicht mehr die Rede. Der Notstand gilt noch bis zum 19. April - mindestens.

Erdogan und die AKP versuchen, Wähler mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche zu einem „Ja“ zu bewegen. Ein „Ja“, so wird suggeriert, sei das Votum der Patrioten, die eine stabile und prosperierende Türkei wollten. „Nein“-Sager werden in die Nähe von Terroristen gerückt. Die AKP verkauft die geplante Verfassungsreform außerdem als ein Mehr an Demokratie, wozu nach Einschätzung von Fachleuten einige Fantasie gehört. Aus Sicht der Verfassungsexperten des Europarates („Venedig-Kommission“) könnten die Änderungen die Grundlage für ein autoritäres Regime bilden.


Ein demokratischer Anstrich

Das „Ja“-Lager propagiert zwar nicht unbedingt die Unwahrheit, aber auch nicht immer die volle Wahrheit. So stimmt etwa, dass der Präsident unter dem neuen System - anders als bislang - theoretisch für alle Straftaten zur Rechenschaft gezogen werden kann. Unerwähnt bleibt aber, dass der Einfluss des Präsidenten auf das Parlament das in der Praxis extrem unwahrscheinlich machen würde. Auch andere Punkte scheinen vor allem dazu zu dienen, dem „Präsidialsystem türkischer Art“ (Erdogan) einen demokratischen Anstrich zu geben.

Eine unabhängige Justiz ist schon jetzt in der Verfassung verankert. Wieso hält es die AKP dann für nötig, nun zusätzlich noch Unparteilichkeit festzuschreiben, nachdem sie selber seit mehr als 14 Jahren an der Macht ist? Und wie verträgt sich das mit dem wachsenden Einfluss des Präsidenten - der künftig wieder einer Partei angehören dürfte und damit nicht einmal mehr auf dem Papier unparteiisch wäre - auf eben jene Justiz?

Auch treue AKP-Wähler sagen in privaten Gesprächen, dass ihnen die Reform nicht geheuer ist und sie mit „Nein“ stimmen werden. Manche wollen nicht so viel Macht in der Hand eines einzelnen Mannes konzentriert sehen. Andere hätten zwar nichts dagegen, solange dieser Mann Erdogan heißt, wissen aber, dass sogar er einmal abtreten wird.

Da die beiden größeren Oppositionsparteien - die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP - strikt gegen das Präsidialsystem sind, braucht Erdogan Stimmen aus dem Lager der ultranationalistischen MHP. Parteichef Devlet Bahceli hat der MHP zwar einen Ja-Sager-Kurs verordnet, viele Anhänger begehren dagegen aber auf. Um sie buhlt Erdogan mit seiner nationalistischen und anti-europäischen Rhetorik.


Wie steht Erdogan zu seinen Wahlversprechen?

Die AKP hat ihren Wahlkampf in den vergangenen Tagen noch einmal intensiviert. Analysten rechnen damit, dass Erdogans Lager sich beim Referendum durchsetzen wird. Nicht nur aus türkischer, sondern auch aus europäischer Sicht würde dann die Frage relevant: Waren Erdogans Aussagen zu einer möglichen Wiedereinführung der Todesstrafe nur Wahlkampfgetöse, oder macht er sich tatsächlich an die Umsetzung? Bleibt er auf europafeindlichem Kurs, oder versucht er, das Porzellan zu kitten, das er mit seinen Nazi-Vergleichen zerbrochen hat?

Ein Sieg bei der Volksabstimmung wäre zwar der bislang größte Erfolg Erdogans, und er könnte sich unmittelbar danach wieder zum AKP-Chef wählen lassen. Seine volle Machtfülle würde er aber erst nach einem Sieg bei der nächsten Präsidentenwahl erreichen, die erstmals gemeinsam mit der Parlamentswahl stattfinden würde. Als Termin ist in den Reformartikeln der 3. November 2019 festgeschrieben. Allerdings steht dort auch, dass die Wahl vorgezogen werden kann.

Die Wirtschaft lahmt, bis 2019 könnte sie in einer ernsten Krise stecken, was Erdogans Siegeschancen deutlich verringern würden. „Ich denke nicht, dass er es sich leisten kann, zweieinhalb Jahre zu warten“, sagt Türkei-Experte Jenkins. „Es gibt eine Chance, dass er die Wahl dann verliert.“ Jenkins geht davon aus: „Was am 16. April auch geschieht, wir bleiben im Wahlkampf-Modus.“

Für den Fall eines „Neins“ beim Referendum gilt das erst recht. Niemand glaubt, dass Erdogan seine Ambitionen damit begraben würde. Der Vorsitzende der Verfassungskommission im Parlament, Mustafa Sentop von der AKP, sagt, das Land benötige eine Änderung der Verfassung. Sollte sich wider Erwarten das „Nein“-Lager durchsetzen, werde der Prozess trotzdem „nicht zu einem finalen Ende kommen“.

Dann wird erwartet, dass Erdogan - der 2014 für fünf Jahre gewählt wurde - den Ausnahmezustand verlängert und auf vorgezogene Parlamentswahlen hinarbeitet. Die durch Massenfestnahmen geschwächte HDP und die über den „Ja“-Kurs ihres Chefs gespaltene MHP könnten an der Zehnprozenthürde scheitern. Womöglich käme die AKP im Parlament dann auf eine Zweidrittelmehrheit. Damit könnte sie Erdogans Reform auch ohne Zustimmung des Volkes umsetzen. Jenkins befürchtet: „Was immer auch passiert, die Türkei steuert auf eine große Krise zu.“

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