Russland Das Trauma sitzt tief

Mit der Annexion der Krim wagt Kremlchef Wladimir Putin die Konfrontation mit Europa. Der Westen will den Autokraten nun mit Sanktionen stoppen - und bringt damit die Wirtschaft in Rage. Die will eine Isolation ihres Wachstumsmarkts verhindern.

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Partner im Guten und Bösen: Bundeskanzlerin Merkel und Russlands Präsident Putin Quelle: REUTERS

Von Florian Willershausen, Henryk Hielscher, Franz Rother Harald Schumacher und Silke Wettach.

Niemals nimmt Wladimir Putin eine Niederlage hin. Doch der 12. März 1999 war für den russischen Präsidenten ein solch schwarzer Tag - einer, der sich als Trauma in sein Gedächtnis eingebrannt hat. Damals war Putin Chef des Geheimdienstes FSB, der in einer steinernen Trutzburg im Herzen von Moskau sitzt. An dem kalten Frühlingstag kam die Meldung, dass die Nato um Polen, Tschechien und Ungarn erweitert wird - obwohl der Westen den Russen versprochen hatte, dies nicht zu tun. Amerikaner, für den KGB-Oberst immer Feind geblieben, standen in Putins Verständnis schon an der russischen Grenze. Diese Demütigung hat er nie verdaut - nun schlägt er zurück. 

Auf der Krim schafft Putin Fakten: Mit der Invasion seiner Truppen und einem völkerrechtlich illegalen Referendum steckt er seinen gefühlten Einflussbereich in Osteuropa militärisch und politisch ab. Putin will seine Macht im postsowjetischen Raum konservieren, indem er Nachbarn wie die Ukraine in der vom Kreml dirigierten Eurasischen Wirtschaftsunion zusammenschnürt und ihre Annäherung an die EU verhindert. Die neue "Nachbarschaftspolitik" des Potentaten wurzelt im Trauma der militärischen Einkreisung von 1999, das der "geopolitischen Katastrophe" folgte, wie der Ex-Spion den Kollaps der Sowjetunion nennt. Der Westen hat diese Befindlichkeit nie verstanden - und Putin sträflich unterschätzt. 

Wo deutsche Unternehmen in Russland aktiv sind
E.On-Fahnen Quelle: REUTERS
Dimitri Medwedew und Peter Löscher Quelle: dpa
Dem Autobauer bröckelt in Russland die Nachfrage weg. Noch geht es ihm besser als der Konkurrenz. Martin Winterkorn hat einige Klimmzüge machen müssen - aber theoretisch ist das Ziel erreicht: Volkswagen könnte in Russland 300.000 Autos lokal fertigen lassen. Den Großteil stellen die Wolfsburger in ihrem eigenen Werk her, das 170 Kilometer südwestlich von Moskau in Kaluga liegt. Vor gut einem Jahr startete zudem die Lohnfertigung in Nischni Nowgorod östlich Moskau, wo der einstige Wolga-Hersteller GAZ dem deutschen Autoriesen als Lohnfertiger zu Diensten steht. Somit erfüllt Volkswagen alle Forderungen der russischen Regierung: Die zwingt den Autobauer per Dekret dazu, im Inland Kapazitäten aufzubauen und einen Großteil der Zulieferteile aus russischen Werken zu beziehen. Andernfalls könnten die Behörden Zollvorteile auf jene teuren Teile streichen, die weiterhin importiert werden. Der Kreml will damit ausländische Hersteller zur Wertschöpfung vor Ort zwingen und nimmt sich so China zum Vorbild, das mit dieser Politik schon in den Achtzigerjahren begonnen hat. Die Sache hat nur einen Haken: Die Nachfrage in Russland bricht gerade weg - nicht im Traum kann Volkswagen die opulenten Kapazitäten auslasten. 2013 gingen die Verkäufe der Marke VW um etwa fünf Prozent auf 156.000 Fahrzeuge zurück. Wobei die Konkurrenz stärker im Minus war. Hinzu kommt jetzt die Sorge um die Entwicklungen auf der Krim. VW-Chef Martin Winterkorn sagte der WirtschaftsWoche: "Als großer Handelspartner blicekn wir mit Sorge in die Ukraine und nach Russland." Er verwies dabei nicht nur auf das VW-Werk in Kaluga, sondern auch auf die Nutzfahrzeugtochter MAN, die in St. Petersburg derzeit ein eigenes Werk hochfährt. Der Lkw-Markt ist von der Rezession betroffen, da die Baukonjunktur schwächelt. Quelle: dpa

Panik vor Putin macht sich nun im Westen breit. Den weiterhin drohenden Krim-Krieg hält Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) für "die größte Krise seit dem Mauerfall". Über Putin soll Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Gespräch mit US-Präsident Barack Obama gesagt haben, er lebe "in seiner eigenen Welt". Die ehemalige US-Außenministerin Hillary Clinton ließ sich gar zum Vergleich von Putin mit Hitler hinreißen. Nie war der Zorn auf den russischen Zampano so ausgeprägt wie heute. Europa fragt sich: Gibt sich Putin mit der Krim zufrieden oder hat er weitere Annexionen im Sinn? Was wäre, wenn Putin die behauptete Bedrohung einer russischen Minderheit wie auf der Krim auch in der Ostukraine als Vorwand für einen Einmarsch nähme? Wenn er die Ukraine zur Teilung zwingt, womit Russland der industrialisierte Osten zufällt und die EU den strukturschwachen Westen teuer päppeln muss.

Infografik Deutsche Unternehmen in Russland

Europa hat bereits Sanktionen gegen Putin beschlossen. Mehr als ein müdes Lächeln hat man Putin nicht abgerungen, indem Verhandlungen über Visa-Erleichterungen abgesetzt und der Rausschmiss Russlands aus der zuletzt zahnlosen G8 vorbereitet wurden. Heute werden die EU-Außenminister wohl als zweite Stufe der Sanktionen Reisebeschränkungen und Konto-Einfrierungen beschließen - die Listen dafür liegen im Auswärtigen Amt bereits in den Schubladen. Heikel dürfte es aber werden, wenn die EU zu Wirtschaftssanktionen greift - und ein Embargo gegen russisches Gas verhängt. Ob sie sich das leisten kann?

Traum vom Wandel durch Handel ist geplatzt

Werden Gas und Benzin knapp?
Warum sind die Deutschen vom Konflikt zwischen Moskau und Kiew im schlimmsten Fall direkt betroffen?Deutschland importiert große Mengen Rohöl und Gas aus Russland; es ist das bei weitem wichtigste Lieferland. Die Ölimporte aus Russland lagen 2013 bei mehr als 31,4 Millionen Tonnen, das sind 34,8 Prozent der gesamten Einfuhren. Bei den Gasimporten sind es sogar 38,7 Prozent. Bislang gibt es nach Angaben der Bundesregierung aber keine Anzeichen für drohende Lieferengpässe. Quelle: dapd

Der alte Ost-West-Konflikt nimmt wieder kräftig Fahrt auf - und dies ist nicht nur ein politisches Fiasko, sondern auch ein ökonomisches. Denn die Krise kann auch die Wirtschaft mit voller Wucht treffen. Die Duma, das russische Parlament, berät über ein Gesetz, das die Enteignung ausländischer Unternehmen regelt. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft warnt vor einer "dauerhaft abschreckenden Wirkung", die das Gesetz auf Investoren hätte. Der Traum vom "Wandel durch Handel" auf den sich die Wirtschaft gern bezog, ist geplatzt - und eine deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft "massiv ins Stocken geraten", sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Mißfelder: "Dennoch müssen wir mit Russland kooperieren, denn es ist unser Nachbar und Europa kulturell eng verbunden." 

Ist das so mit der Verbundenheit? In diesen Tagen ist hinter den Kulissen von Politik und Wirtschaft ein Kulturkampf um die Frage entbrannt: Müssen wir Europäer unsere Werte in Russland durchsetzen - und können wir das überhaupt?  Oder sollten wir pragmatisch Geschäfte mit dem Rohstoffgiganten machen - wie mit dem demokratiefernen China auch? Die Position der Wirtschaft ist letztere und steht unabhängig vom Ausgang der Krim-Krise: Russland ist als Öl- und Gaslieferant, Absatzmarkt und Standort für Investitionen zu bedeutend, als dass man es sich mit Putin verscherzen kann. 

Eckhard Cordes, der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft, warnt eindringlich vor weiteren Sanktionen: "Unsere Volkswirtschaften sind so voneinander abhängig, dass wir uns mit solch unsinnigen Strafmaßnahmen gegenseitig enorm schaden würden." Die Schockfrostung der Beziehungen zu Russland will auch Volker Treier verhindern, Vize-Chef des Deutschen Industrie- und Handelskammertags. "Enormen Flurschaden" habe die Krise schon angerichtet: "Kapitalabfluss und Rubel-Verfall bremsen die Konjunktur in Russland." 

Russland zählt trotz virulenter Bürokratie und Korruption zu den wichtigsten Wachstumsmärkten deutscher Unternehmen, bald nach China und weit vor Brasilien.  Rund 7000 Unternehmen sind in Russland registriert, viele betreiben eigene Fabriken in dem Land mit seinen 143 Millionen Einwohnern. Fast 40 Prozent des deutschen Gasaufkommens stammen aus russischen Fördergebieten, das Land ist momentan größter Öllieferant der Bundesrepublik. All das ist plötzlich in Gefahr. Zwar liefen die Geschäfte schon im vergangenen Jahr nicht blendend: Das russische Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1,4 Prozent bedeutet für ein Land, das einen hohen Investitionsbedarf aufweist, nahezu Stagnation. Sobald nun Investoren aus Furcht vor einem Wirtschaftskrieg ihr Kapital "on hold" setzen, könnte dies Russland in die Rezession treiben. 

Rubelabwertung schmälert Gewinne deutscher Unternehmen

Eine russische Ölraffinerie in Sibirien. Russland ist Deutschlands größter Öllieferant. Quelle: REUTERS

Aktuell freilich setzt die drastische Abwertung des Rubel vielen Unternehmen zu. Binnen Jahresfrist hat die Währung zum Euro rund ein Drittel an Wert verloren. "Wir haben hier alle Angst um die Gewinne", sagt der Russland-Chef eines deutschen Maschinenbauers in Moskau. Investoren mit Montagebetrieb in Russland müssen in Deutschland ihre Teile auf Euro-Basis einkaufen. Ihre Endprodukte verkaufen sie ab Werk gegen Rubel. Wer vor Ort produziert, leidet doppelt unter dem Währungsverfall: Der Einkauf wird teurer - und vom Umsatz bleibt in Euro weniger übrig. 

Österreichs Bauriese Strabag, der in Russland 1800 Mitarbeiter beschäftigt, steht wegen der Teuerung der aus Europa zugelieferten Teile unter Druck. Am kostspieligen Import leidet auch Autobauer BMW, der in Kaliningrad kleinere Modelle endmontieren lässt. Vorstandschef Norbert Reithofer mag noch nicht einschätzen, wie sich die Spannungen auf das Geschäft auswirken werden. Er warnt allerdings: "Auch die Finanzkrise 2008 fing ja mal ganz klein an."  Sanktionen des Westens würden für die Branche jedenfalls schwere Konsequenzen haben. 

Welche Oligarchen die Regierung bekämpfen – und wer sie stützt
Rinat AchmetowEr finanzierte Janukowitsch den Wahlkampf, nun distanziert er sich vom Präsidenten Quelle: dpa
Viktor PintschukDer Stahlunternehmer macht keinen Hehl daraus, dass er die Opposition finanziert Quelle: AP
Dmytro FirtaschDer Gashändler sponsert Oppositionelle und warnt vor der Eskalation Quelle: dpa Picture-Alliance
Serhij KurtschenkoAls Günstling des Präsidenten ist er reich geworden – er dankt es ihm Quelle: Metalist Charkhiv PR
Petro Poroschenko (2.v.l.)Der oppositionelle Schokoladenzar leidet unter dem Kreml-Embargo Quelle: REUTERS

Bilanzielle Folgen hat die Krim-Krise für den Handelskonzern Metro, der sich eines starken Russland-Geschäfts rühmt. Im vergangenen Jahr setzten die Kaufleute dort 5,3 Milliarden Euro über die Großmarktsparte und die Elektroniktochter Media Markt um. In der Ukraine betreibt Metro 33 Märkte, darunter zwei auf der Krim. Jüngst hatten die Düsseldorfer signalisiert, bis zu 25 Prozent ihrer russischen Großhandelstochter in London an die Börse zu bringen. Erlöse von bis zu einer Milliarde Euro sollten in das Wachstum des Konzerns fließen. 

Daraus wird nun eher nichts. Nach der jüngsten Eskalation müssen die Börsenpläne wohl verschoben werden, die Bewertung könnte nach unten korrigiert werden. Entsprechend besorgt reagierten Anleger. Der Aktienkurs der Metro-Gruppe brach nach der Krim-Besetzung ein. Ähnlich lief es bei Adidas. Russland ist für den deutschen Sportausrüster einer der wichtigsten Märkte der Welt. Noch laufen die Geschäfte, doch "wenn der Konflikt andauert, wird das die Verbraucher nervöser machen", so Adidas-Chef Herbert Hainer. 

Abschreckend wirken die Turbulenzen der vergangenen Tage auch für Lebensmittelhändler, die mit der Expansion gen Osten geliebäugelt hatten. "Die dürften Russland vorerst von ihrer Expansionsliste streichen", sagt Boris Planer, Osteuropaexperte vom Informationsdienst Planet Retail in Frankfurt. Das Problem: Neue Filialen rechnen sich erst nach sieben bis zehn Jahren, Immobilieninvestments sind auf Jahrzehnte ausgelegt. "Putin hat das Vertrauen in die langfristige Stabilität beschädigt", sagt Planer. Nun würden Händler verstärkt auf China oder Südamerika ausweichen. 

Russischer Staat ähnelt immer mehr der alten Sowjetunion

Keine vier Wochen ist es her, da schien noch die Sonne über Putins Russland. Der Autokrat hatte nach Sotschi ans Schwarze Meer geladen Quelle: dpa

Entspannter ist man bei der EADS Airbus Group. Zwar bezieht der Flugzeugbauer 60 Prozent seines Titans von VSMPO-Avisma in Russland, was sich kurzfristig nicht ersetzen ließe. "Aber Airbus könnte Ersatz in Kasachstan finden", meint ein Insider. Aus den Kooperationen zum Bau von Waffen wurde nichts, der Markt für neue Flugzeuge fällt kaum ins Gewicht. 

Keine vier Wochen ist es her, da schien noch die Sonne über Putins Russland.  Der Autokrat hatte nach Sotschi ans Schwarze Meer geladen. Mit Prunk und Protz wollte er der Welt beweisen, wie seine moderne Heimat Olympische Winterspiele an einem unmöglichen Ort möglich ausrichten kann - in einem Badeort mit subtropischen Temperaturen, über dem ein Skigebiet mit bestens präparierten Hängen thront. Nie zuvor hatte sich ein Staat die Spiele so viel kosten lassen wie Russland (wobei ein Teil der investierten 50 Milliarden Dollar in den Taschen von Putin-Bekannten gelandet sein soll). Auch deutsche Unternehmer hatten mit dem Bau von Tunnel, Klimaanlagen und Messtechnik zusammen einige Hundert Millionen Euro Umsatz gemacht. 

Spott und Häme indes gossen internationale Medien über die Spiele der Russen, auf die Putin so stolz war. Es ging mehr um fehlende Trennwände in Toiletten als um das Sportfest, dessen prachtvolle Inszenierung den Landsleuten gefiel.  Westliche Politiker blieben den Spielen wegen der Anti-Homo-Gesetze und Menschenrechtsverletzungen fern. Spätestens da dürfte Putin jeden Zweifel verloren haben: Aus seinem Verhältnis zum Westen wird nie ein gutes werden - zumal er deren Werte nie verstanden hat. 

Umso wichtiger ist für Putin die Unterstützung im Inland. Proteste der Russen gegen seinen Kurs kann er nicht gebrauchen - und notfalls werden sie mit Geld zugekleistert. 

Togliatti, im Februar 2010. Im längsten Autowerk der Welt stehen die Bänder still - der Markt will die rückständigen Kleinwagen nicht haben, die sie hier in Südrussland am Ufer der Wolga fertigen. Dennoch schlurfen Arbeiter zwischen Schneebergen täglich ins Werk, denn dank Finanzspritzen aus Moskau kann Hersteller Awtowas Massenentlassungen vermeiden. Da der Hof mit Autos überfüllt ist, müssen die Arbeiter ihre Fabrik putzen. Manche dürfen bezahlt zu Hause bleiben. Und trotzdem kommt es zu Protesten gegen die Regierung. Den Leuten erscheint es komisch, dass sie seit Wochen keine Autos mehr bauen. 

In jenen Tagen erreichten den damaligen Premierminister Putin ständig Hiobsbotschaften. Nicht nur in Togliatti demonstrieren Arbeiter, auch in Kaliningrad im Westen und in Archangelsk ganz hoch im Norden gehen die Menschen auf die Straße. Putin hat Glück, dass die Wirtschaft nach einem BIP-Minus von 7,8 Prozent im Vorjahr wieder auf Trab kam und auch in Togliatti bald wieder die Bänder rollten. 

Putin ist seitdem so etwas wie ein laufendes Konjunkturpaket: Steuereinnahmen aus dem Öl- und Gasexport steckt er in Infrastruktur und Staatsunternehmen. Er kreiert neue Jobs, und die Werktätigen wählen Putin - das Heer an Beamten, Soldaten und Rentnern erst recht. Heute trägt der Staat mehr als 50 Prozent der russischen Wirtschaftskraft und wird damit der alten Sowjetunion immer ähnlicher. 

Ein ganzes Land an Putins Rocksaum

Der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew Quelle: dpa

Jewgeni Gontmacher ist einer jener Ökonomen, die Russland modernisieren wollten. Er zählte zum Beraterkreis des Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew, heute wie damals ein willfähriger Diener Putins. Der liberale Gontmacher glaubt immer noch, Medwedew hätte das Land mit seiner Privatisierung, dem Kampf gegen Rechtsnihilismus und Korruption oder der Förderung von Innovationen reformieren können, wenn ihm nur nicht die Wirtschaftskrise in die Quere gekommen wäre: "Putin übernahm selbst das Steuer und stoppte unsere Experimente mit der Liberalisierung."  

Das letzte Zucken der Liberalisierung zeigte sich kurz vor Weihnachten 2011 auf dem Bolotnaja-Platz gegenüber des Kreml. Damals trieben Wahlfälschungen Russlands urbane Mittelschicht auf die Straße, um gegen die Selbstgefälligkeit und Arroganz der korrupten Putin-Elite zu demonstrieren. Die Proteste schliefen ein. Seither herrscht in der russischen Mittelschicht gepflegte Lethargie: Die Russen in den Städten verdienen gutes Geld, denen in der Provinz erhöht Putin regelmäßig ihre kargen Löhne. Zum Dank darf Putin walten, wie er will. 

Lange geht das nicht mehr gut. Putins Wirtschaftsmodell pfeift wie eine uralte Dampfmaschine aus allen Löchern. Obwohl der Ölpreis bei mehr als 100 Dollar pro Barrel liegt, wird es Russland auf einen Zeitraum von zehn Jahren nicht über ein Wachstum von zwei Prozent schaffen, rechnet Alexei Wedew vor, Ökonom am Moskauer Gaidar-Institut für Wirtschaftspolitik. Es fehlt allenthalben an Wertschöpfung: Russland exportiert den Großteil des Rohöls ins Ausland, um es dann als Benzin aus Weißrussland oder Kasachstan zurückzukaufen.  Wer in Russland Geld hat, schafft es auf ausländische Konten, statt damit im Inland Fabriken zu bauen. Die Hälfte der russischen Studenten träumt von einer Beschäftigung beim Staat statt von Selbstständigkeit - kein Wunder, denn die Bürokratie macht jede Unternehmensgründung zum Spießrutenlauf. 

So hängt ein ganzes Land am Rocksaum von Wladimir Putin, der die Milliarden verteilt. Doch was passiert, wenn eine Rezession kommt und das Durchfüttern maroder Staatsbetriebe die Regierung so überfordert, dass Massenentlassungen unausweichlich sind? Wenn sich die Arbeiter mit der urbanen Mittelschicht zusammenraufen und gegen das auf Sand gebaute Wirtschaftsmodell protestieren?  Dann könnte es für Putin so ungemütlich werden wie für den ukrainischen Kleptokraten Viktor Janukowitsch in Kiew. 

Davor hat Putin Angst, weshalb er seine Kritiker mithilfe seiner vorauseilend gehorsamen Justiz gerne in Straflager sperrt. Und im staatlich kontrollierten Fernsehen das Ruhelied von der Stabilität singen lässt. 

Vorläufig funktioniert Putins Russland noch. Deutsche Unternehmen haben sich mit Putins Staatskapitalismus arrangiert. Der frühere Siemens-Chef Peter Löscher war gern und häufig bei Putin zu Gast, was ihm wohl half, den Zuschlag für lukrative Staatsaufträge zu ergattern. Wer Putins Gunst hat und sich zur Politik nicht äußert, kann gefahrlos seinen Geschäften nachgehen. "Im Moment beobachten die Behörden genau, ob sich ein Investor jetzt zum Standort bekennt oder ob er wie die Idioten im Westen nach Sanktionen ruft", sagt ein Investor. 

Brüssel denkt über das Einfrieren russischer Konten nach

Zahlreiche Flaggen der Europäischen Union wehen vor dem Hauptsitz der EU-Kommission in Brüssel. Derzeit wird darüber nachgedacht russische Vermögen einzufrieren. Quelle: dpa

Niemand hätte sich solch eine Eskalation träumen lassen. Vor zwei Wochen standen die Zeichen zwischen Berlin und Moskau auf Neustart. Die Phase der schwarz-gelben Regierung war keine gute für das bilaterale Verhältnis. Übel stieß Investoren immer wieder auf, dass Bundestagsabgeordnete und FDP-Bundesaußenminister Guido Westerwelle die Russen mit "Zeigefinger-Diplomatie" vor den Kopf gestoßen hatten. "Die sollen Unstimmigkeiten ansprechen, aber nicht vor laufenden Kameras", so Gerd Lenga, der in Frank-Walter Steinmeier auf einen feinfühligeren Außenminister hofft. 

Lenga ist kein Hinterbänkler. Der Jurist ist seit 25 Jahren in Moskau tätig und führte lange das Russland-Geschäft von Knauf, wo er heute Berater ist. Der fränkische Gipshersteller ist mit mehr als 20 Niederlassungen im GUS-Raum einer der größten deutschen Investoren in Russland. Lenga kennt die Sollbruchstellen des russischen Wirtschaftssystems, er benennt sie auch. Aber der politische Ton gefällt ihm nicht. "Es ist mir unverständlich, wie die deutsche Politik in der Ukraine klar Partei für die Opposition ergreifen konnte", zürnt Lenga. "Die ökonomischen Folgen muss die Wirtschaft jetzt ausbaden." Nun hofft Lenga, dass weiter reichende Sanktionen in den Schubladen der Brüsseler EU-Beamten bleiben. 

Rechtlich möglich wäre vieles, sagt Dirk Hagemann, Rechtsanwalt für Außenhandel im hessischen Büdingen. "Die EU kann gegen Einzelpersonen oder Staaten Sanktionen beschließen, was einen gemeinsamen Beschluss des Europäischen Rats voraussetzt." In der Geschichte sei der außenpolitische Erfolg von Sanktionen allerdings unterschiedlich, so Hagemann. "Nur sehr zielgerichtete Sanktionen versprechen Erfolg, andere können zumindest eine symbolische Wirkung entfalten." 

Natürlich könnte der Westen Russland auch aus dem illustren G8-Kreis der Industrieländer ausschließen - aber das wäre ein rein symbolischer Akt, was schon in Sotschi nicht geholfen hat, als die EU-Spitzen der Eröffnung fernblieben. Ein Embargo gegen russisches Gas wäre aus vertraglichen Gründen schwierig. "Deutschland könnte dank seiner Speicher für 60 bis 90 Tage auf russische Gaslieferungen verzichten", sagt Energieexperte Frank Umbach vom European Centre for Energy and Resource Security in London. Aber die Mindestmenge, die Gazprom jedem Kunden abverlangt, müssten E.On und Co. später einlösen. Hinzu käme, dass viele Länder im Baltikum, in Mittel- und Osteuropa über keine Gasspeicher verfügen und bei einer Energiekrise womöglich ohne Gas dastünden. 

Brüssel liebäugelt daher eher mit dem Einfrieren russischer Vermögen. "Manch reicher Russe wird sich Sorge um sein Vermögen in London, Wien oder Luxemburg machen", sagt EU-Energiekommissar Günther Oettinger. Allerdings mauern die Briten, die ihr Finanzzentrum London nicht beschädigen wollen. Auch ein kleiner Mitgliedstaat wie Zypern wäre von einem solchen Schritt nicht begeistert. 

Kreml will Ukraines Annäherung an EU verhindern

Der Maidan steht in Flammen
Der berühmte Maidan, der Unabhängigkeitsplatz in Kiew, steht in Flammen. Ein Demonstrant schützt seine Augen, während er Stacheldraht um das Feuer zieht. Quelle: dpa
Sicherheitskräfte stürmten in der Nacht auf Mittwoch (19. Februar) den von Demonstranten besetzten Unabhängigkeitsplatz. Auf beiden Seiten gab es Tote und Verletzte, als die Situation eskalierte. Quelle: dpa
Die meisten Todesopfer starben durch Schusswunden, wie Vertreter von Behörden und Opposition erklärten. Hunderte Menschen wurden verletzt, dutzende von ihnen schwer. Quelle: dpa
Die Regierungsgegner setzten zahlreiche Barrikaden in Brand, um die Polizei zu vertreiben. Der Maidan verwandelte sich in ein Flammenmeer, Rauchsäulen steigen in den Himmel. Quelle: dpa
Die Unruhen weiteten sich auf mehrere Städte im Westen des Landes aus. In Stanislau und Lemberg besetzten Demonstranten am späten Dienstagabend nach Polizeiangaben mehrere Verwaltungsgebäude der Regionalregierung. In Ternopil wurde das Polizeihauptquartier in Brand gesetzt, wie Medien berichteten. Nach Angaben eines Oppositionspolitikers besetzten Demonstranten zudem das Gebäude der Staatsanwaltschaft. Quelle: dpa
Die ehemalige Sowjetrepublik erlebte den bislang blutigsten Tag seit Beginn ihrer Unabhängigkeit vor mehr als 20 Jahren. Demonstranten warfen mit Steinen und Molotowcocktails. Quelle: dpa
Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht: Ein nächtliches Krisentreffen von Präsident Viktor Janukowitsch mit Oppositionsführern blieb ohne Ergebnis. Quelle: dpa

Entscheidend wird ohnehin sein, ob sich die Lage in der Ukraine stabilisiert - weil genau dies nicht im Interesse Putins ist: "Der Kreml will einer Annäherung an die EU und insbesondere an die Nato einen Riegel vorschieben", sagt Stefan Meister, Russland-Experte des European Council on Foreign Relations. Wenn es der ukrainischen Bevölkerung schon gelinge, den gewählten Präsidenten zu verjagen, dann solle dies wenigstens nicht ökonomisch zum Erfolg führen. So erklärt sich Meister auch die Propaganda des Putin-Regimes, das auf allen Kanälen die Bilder von Rechtsextremen verbreiten lässt, die allenfalls eine kleine Minderheit darstellen. "Der Sturz einer Regierung in Kiew ist ein Präzedenzfall, der sich auch auf andere postsowjetische Staaten auswirken könnte", so der Politikwissenschaftler. Putin diskreditiere die Maidan-Bewegung, damit sich dies in Moskau nicht wiederholt. 

Infografik Deutsche Unternehmen in Russland

Die Menschen in der Ukraine versuchen unterdessen, sich mit der schwierigen Lage zu arrangieren. Julian Ries, der als Rechtsanwalt für die französische Kanzlei Gide Loyrette Nouel in Kiew tätig ist, erlebt ein "Wechselbad der Gefühle": "Einen Abend habe ich überlegt, wie ich meine Familie schnell aus dem Land bekomme - und am nächsten Morgen sah die Lage wieder entspannt aus." Das Problem sei die Unberechenbarkeit der Situation. Die Stimmung ist dennoch gut unter ausländischen Investoren. "Viele hoffen, dass sich die Ukraine jetzt in eine westlich demokratische Richtung bewegt. Dieser Kurs verspricht Rechtssicherheit und kann dazu beitragen, dass das Potenzial des Marktes endlich gehoben wird." 

Letztlich ist es die Wahl der Ukrainer, ob sie den EU-Kurs wählen wollen oder den Status quo - und Wähler sitzen jenseits der Kiewer Euphorie auch im prorussischen Osten. Eines aber ist klar: Wladimir Putin wird hierbei mitreden wollen. Sein Trauma der Nato-Erweiterung sitzt tief. 

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