Russland Der kalte Krieg ums Gas geht weiter

Um Mitternacht läuft das Ultimatum ab und noch immer ist keine Lösung in Sicht: Der Ukraine, Gas-Transitland nach Europa, kann seine offenen Rechnungen an Russland nicht zahlen. Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) erzielten bisher keine Einigung über Modalitäten für einen Milliardenkredit in Höhe von 4,2 Milliarden Dollar an die Ukraine.

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Kontrolle von Leitungen nahe Quelle: AP

Die Achillesferse der Europäischen Union ist erneut bedroht: Nahezu die Hälfte des EU-Energiebedarfs muss derzeit durch Importe gedeckt werden und die Abhängigkeit nimmt zu.

Nach Berechnungen der Internationalen Energiebehörde (IEA) steigt die Importabhängigkeit der EU bis 2020 auf 64 und bis 2030 gar auf 67 Prozent. Die EU-Industrienationen sind vor allem von Erdgas- und Erdöllieferungen abhängig.

Die EU kann ihren Jahres-Erdölbedarf nur zu 14 Prozent aus eigenen Quellen schöpfen und das eigene Aufkommen geht weiter zurück.

Russland und Norwegen zusammen bestreiten allein 44 Prozent der Erdöllieferungen in die EU. Prekärer noch sieht es beim Erdgas aus. Zwar konnten die EU im Jahre 2005 noch 43 Prozent des Bedarfs aus eigenen Feldern decken.

Doch schon zum Ende des Jahrzehnts werden drastisch zurückgehende Fördermengen prognostiziert. Die drei Hauptlieferländer für Erdgas stellen Russland, Norwegen und Algerien mit einem Gesamtvolumen von 84 Prozent dar, wovon 42 Prozent allein aus russischen Vorkommen stammen.

Die Ukraine braucht dringend Kredite

In der bisherigen Lieferstruktur kommt dem Transitland Ukraine eine Schlüsselrolle für den europäischen Gasmarkt zu. Anfang des Jahres hatte es wegen eines Streits zwischen dem Produzenten Russland und dem Transitland Ukraine wochenlange Lieferausfälle in Europa gegeben. Die Eigenbrödelei und das Beharren der EU-Mitgliedstaaten auf eigener Kompetenz in der Energiepolitik, rächte sich im zurückliegenden Winter beim russisch-ukrainischen Poker um Gasdurchleitungsrechte bereits zum zweiten Mal.

Im Januar froren Hundert Tausende EU-Bürger vor allem in den neuen EU-Mitgliedstaaten wegen ausbleibender Gaslieferungen aus Russland. Ukrainer und Russen bezichtigten sich gegenseitig des "Gasschwindels".

Einst zu Zeiten des Sowjetimperiums aneinander gekettet - ließen die beiden widerstreitenden unabhängigen Kontrahenten ihre Muskeln spielen im Poker um Durchleitungsrechte, unterirdische Gasspeicher und die Bezahlung von sogenanntem "Betriebsgas", das dazu nötig ist, um Milliarden von Kubikmetern Erdgases von Russland durch das Leitungsnetz der Ukraine bis nach Bayern ins deutsche Netz zu pumpen.  Russland drehte in Zeiten boomender Wirtschaft nicht nur an der Preisspirale nach oben; wegen ausbleibender Zahlungen des Gastransitlandes Ukraine, drehte Moskau kurzerhand in der kältesten Winterperiode zu Jahresbeginn 2009 über Wochen den Gashahn völlig zu.

Damit pressten die Kremlherren Putin und Russlands Präsident Dimitri Medwedjew nicht nur neue Verträge herbei, sondern auch die als Kunden unbeteiligten aber am härtesten betroffenen Europäer mit an den Verhandlungstisch.

Obwohl nach dem russisch-ukrainischen Gaskrieg nach der Ausschaltung dubioser Gaszwischenhändler die Konflikte im Februar ausgeräumt schienen, flammt der kalte Gaskonflikt im heißen Sommer nun erneut auf.  Die Energiesicherheit der EU erscheint erneut bedroht. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso läutete bereits Mitte Juni beim Treffen der 27 EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel die Alarmglocke.

Die Ukraine habe zur Abwendung eines neuen Gaslieferstopps aus Russland bei der Europäischen Union 4,2 Milliarden Dollar (3 Millionen Euro) Kredit beantragt. "Wir müssen uns auf den schlimmsten Fall einstellen", sagte Barroso.

Russisches Gas müsse bezahlt werden. Barroso warnte Mitte Juni unmissverständlich: "Es handelt sich um eine große Krise." Er habe mit dem Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, telefoniert, um Lösungen zu finden.

Es gehe darum, ein Paket zu schnüren, um Finanzierungslücken der Ukraine zu schließen. Um der Industrie und den EU-Bürgern erneute Engpässe im kommenden Winter zu ersparen, loten jetzt alle Beteiligten Lösungsmodelle aus. Aber auch die EU-Gaskoordinierungsgruppe mit Vertretern aus allen EU-Mitgliedstaaten erzielte in einer Krisensitzung in der vergangenen Woche keinen Durchbruch. In ihrem Abschlusskommuniqué forderten sie alle EU-Staaten auf, ihre eigenen Gasspeicherkapazitäten auszubauen und ihre Lager - von wo her auch immer - aufzufüllen vor dem Winter.

Russland macht sich als Lieferpartnerland erneut unbeliebt, ja verspielt weiter seinen Kredit als zuverlässiger Lieferant, heißt es in Brüssel. 

Kontrolle von Leitungen nahe Quelle: dpa

Die EU versucht seit Ende Juni im Konflikt um unbezahlte russische Rechnungen vergeblich zu vermitteln. Die Ukraine ist im Zuge der Weltwirtschaftskrise finanziell schwer angeschlagen und weiß nicht, wie sie bis zum 7. Juli um Mitternacht die von Russland geforderten Milliardensummen zur Begleichung offener Gasrechnungen beibringen soll.

Auf Initiative der EU-Kommission berieten in der ersten Juliwoche Vertreter von Weltbank, Internationalem Währungsfonds (IWF) und der europäischen Gasindustrie mit Russen und Ukrainern über die Aufnahme von Darlehen zugunsten der Ukraine. Die Ukraine hat zur Abwendung eines neuen Gaslieferstopps aus Russland bei der EU 4,2 Mrd. $ (ca. 3 Mrd. €) Kredit beantragt. Russland hat klargestellt, sich an einem Kredit nur gemeinsam mit der EU beteiligen zu wollen. Musste der ehemalige Bruderstaat Ukraine Russlands in der Vergangenheit einmal im Jahr Gasrechnungen an Moskau bezahlen, haben die Vertragspartner sich nun auf eine monatliche Zahlungsweise verständigt.

Für die Kredite der Ukraine könnte auch die EU zu Bürgschaftsverpflichtungen herangezogen werden.

Der Ukraine fehlen aber nicht nur die Mittel, um die Juni-Gasrechnung zu bezahlen, auch für das Auffüllen der nun im Besitz der Ukraine befindlichen unterirdischen Gasspeicher, die derzeit nur bis zu einem Drittel aufgefüllt sind, fehlt Kiew das Geld.

Die europäische Gasindustrie drängt darauf, dass spätestens ab August russisches Gas eben in jene Speicher durchgeleitet wird, um einer erneuten Gaskrise im Winter 2009/2010 vorzubeugen. Nur durch das Füllen von Gasspeichern werde gewährleistet, dass im Winter ausreichend Gas aus Russland in die EU gepumpt werden können.  Russisches Gas in ukrainischen Lagern ist für alle drei Beteiligten - die EU, die Ukraine und Russland - gleichermaßen wichtig", sagte die ukrainische Premierministerin Julia Timotschenko beim EU-Energieministerrat kürzlich in Luxemburg. Für die Kredite der Ukraine könnte auch die EU zu Bürgschaftsverpflichtungen herangezogen werden. IWF und Weltbank wollen ebenso Russland in entsprechende Kreditleistungen einbeziehen. Russland will sich nur an einem Kredit gemeinsam mit der EU beteiligen. 

Die Europäer sehen sich erneut mit dem Rücken an der Wand und als "Geisel der ukrainisch-russischen Querelen"

Unterhändler aus Kiew beschwichtigen derweil: Nachdem die Ukraine einen Zehn-Jahres-Vertrag mit Russland abgeschlossen habe, sei auch zum Jahresende nicht mit neuen Schwierigkeiten bei der Gaslieferung zu rechnen, heißt es aus ukrainischen Teilnehmerkreisen. Es gehe bei der jetzt geplanten Finanzierung um "eine zivilisierte Nutzung von Krediten": Dafür wolle Kiew Zinsen zahlen. Nicht auszuschließen ist, dass die EU künftig beim russischen Gas doppelt bezahlt: für die Lieferung und die Bedienung von Krediten an Kiew.  EU-Kommissionschef José Manuel Barroso gab heute in einer Pressekonferenz in Brüssel das Scheitern der bisherigen Gespräche bekannt: "Es ist noch kein Abkommen mit den Finanzinstituten über einen Milliardenkredit für die Ukraine geschlossen und es ist nicht sicher, ob wir bis Mitternacht ein Ergebnis garantieren können."

Im EU-Haushalt gebe es keine Möglichkeit, entsprechende Gelder zur Verfügung zu stellen, erklärte er. Die Europäer sehen sich erneut mit dem Rücken an der Wand und als "Geisel der ukrainisch-russischen Querelen", wie ein ranghoher EU-Diplomat zusammenfasst. Vom bevorstehenden dreitägigen G8-Gipfel der reichsten Industrienationen im italienischen L`Aquila erwartet in Brüssel niemand ein Durchtrennen des gordischen Knotens. Das russisch-ukrainische Thema bleibt weiter auf der Tagesordnung und das Gas-Poker geht weiter.

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