Russland Das Trauma sitzt tief

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Ein ganzes Land an Putins Rocksaum

Der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew Quelle: dpa

Jewgeni Gontmacher ist einer jener Ökonomen, die Russland modernisieren wollten. Er zählte zum Beraterkreis des Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew, heute wie damals ein willfähriger Diener Putins. Der liberale Gontmacher glaubt immer noch, Medwedew hätte das Land mit seiner Privatisierung, dem Kampf gegen Rechtsnihilismus und Korruption oder der Förderung von Innovationen reformieren können, wenn ihm nur nicht die Wirtschaftskrise in die Quere gekommen wäre: "Putin übernahm selbst das Steuer und stoppte unsere Experimente mit der Liberalisierung."  

Das letzte Zucken der Liberalisierung zeigte sich kurz vor Weihnachten 2011 auf dem Bolotnaja-Platz gegenüber des Kreml. Damals trieben Wahlfälschungen Russlands urbane Mittelschicht auf die Straße, um gegen die Selbstgefälligkeit und Arroganz der korrupten Putin-Elite zu demonstrieren. Die Proteste schliefen ein. Seither herrscht in der russischen Mittelschicht gepflegte Lethargie: Die Russen in den Städten verdienen gutes Geld, denen in der Provinz erhöht Putin regelmäßig ihre kargen Löhne. Zum Dank darf Putin walten, wie er will. 

Lange geht das nicht mehr gut. Putins Wirtschaftsmodell pfeift wie eine uralte Dampfmaschine aus allen Löchern. Obwohl der Ölpreis bei mehr als 100 Dollar pro Barrel liegt, wird es Russland auf einen Zeitraum von zehn Jahren nicht über ein Wachstum von zwei Prozent schaffen, rechnet Alexei Wedew vor, Ökonom am Moskauer Gaidar-Institut für Wirtschaftspolitik. Es fehlt allenthalben an Wertschöpfung: Russland exportiert den Großteil des Rohöls ins Ausland, um es dann als Benzin aus Weißrussland oder Kasachstan zurückzukaufen.  Wer in Russland Geld hat, schafft es auf ausländische Konten, statt damit im Inland Fabriken zu bauen. Die Hälfte der russischen Studenten träumt von einer Beschäftigung beim Staat statt von Selbstständigkeit - kein Wunder, denn die Bürokratie macht jede Unternehmensgründung zum Spießrutenlauf. 

So hängt ein ganzes Land am Rocksaum von Wladimir Putin, der die Milliarden verteilt. Doch was passiert, wenn eine Rezession kommt und das Durchfüttern maroder Staatsbetriebe die Regierung so überfordert, dass Massenentlassungen unausweichlich sind? Wenn sich die Arbeiter mit der urbanen Mittelschicht zusammenraufen und gegen das auf Sand gebaute Wirtschaftsmodell protestieren?  Dann könnte es für Putin so ungemütlich werden wie für den ukrainischen Kleptokraten Viktor Janukowitsch in Kiew. 

Davor hat Putin Angst, weshalb er seine Kritiker mithilfe seiner vorauseilend gehorsamen Justiz gerne in Straflager sperrt. Und im staatlich kontrollierten Fernsehen das Ruhelied von der Stabilität singen lässt. 

Vorläufig funktioniert Putins Russland noch. Deutsche Unternehmen haben sich mit Putins Staatskapitalismus arrangiert. Der frühere Siemens-Chef Peter Löscher war gern und häufig bei Putin zu Gast, was ihm wohl half, den Zuschlag für lukrative Staatsaufträge zu ergattern. Wer Putins Gunst hat und sich zur Politik nicht äußert, kann gefahrlos seinen Geschäften nachgehen. "Im Moment beobachten die Behörden genau, ob sich ein Investor jetzt zum Standort bekennt oder ob er wie die Idioten im Westen nach Sanktionen ruft", sagt ein Investor. 

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