Russland Goldsuche ohne Rücksicht auf Verluste

In Russland geht die Bergbauindustrie mit fragwürdigen Methoden auf die Suche nach dem Edelmetall. Bürger und Umweltschützer protestieren.

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Goldbarren Quelle: dpa

Vor der goldverzierten Ikonenwand in der alten Kirche des heiligen Nikolaus im Dörfchen Byngi, 85 Kilometer nördlich der Millionenstadt Jekaterinburg, treffen wir eine alte Frau, die das ausspricht, was in ihrem Dorf viele denken: "Im Zyanid wohnt der Teufel. Das Ausland schickt es zu uns. Die wollen uns Russen vergiften und unsere Rohstoffe stehlen."

Zyanid, genauer gesagt Natriumzyanid, ist ein hochgiftiges Lösungsmittel, mit dessen Hilfe feinste Goldspuren aus dem Erz herausgeätzt werden können. Das chemische Verfahren, Haldenlaugung genannt, ist in vielen Ländern die Antwort der Bergbauindustrie auf geologisch immer schwierigere Förderbedingungen.

Russische Minen setzen zur Aufholjagd an

Das gilt gerade auch für Russland, trotz aller Ängste vor den möglichen Schäden für Mensch und Umwelt. Die Regierung in Moskau setzt auf Gold als Heilmittel gegen die Fieberschübe auf den globalen Finanzmärkten und als Instrument zur Diversifizierung der einseitig auf Gas und Erdöl gestützten Wirtschaft. So hat die Russische Föderation in den vergangenen zehn Jahren mehr Gold aufgekauft als jeder andere Staat der Welt, 570 Tonnen, wie Bloomberg Anfang 2013 anhand von Zahlen des Internationalen Währungsfonds ermittelte.

Die Goldvorkommen in der Russischen Föderation

Die russischen Goldminen haben zwar in der postsowjetischen Krisenzeit den Anschluss an internationale Standards verloren. Doch jetzt setzen sie zur Aufholjagd an. Im Jahr 2011, als Südafrika zurückfiel, avancierte Russland zur Nummer vier unter den Goldproduzenten, hinter China, Australien und den USA. 2012 stieg die Produktion um weitere sieben Prozent auf 226 Tonnen.

Gleichzeitig suchte das Ministerium für Rohstoffe und Umweltschutz Investoren für bis zu 86 Goldprojekte mit einem Potenzial von etwa 91 Millionen Unzen Gold. Die Liste verheißt neue Dorados ganz im Osten Sibiriens, in den Teilrepubliken Burjatien und Sacha-Jakutien sowie in der Region um die Stadt Chabarowsk. Auch nach den Einbrüchen des Goldpreises in diesem Jahr ist kein Strategiewechsel in Sicht: Die russische Zentralbank hat das Preistief vielmehr genutzt, um ihre Goldbestände um weitere 269 000 Feinunzen auf nun 31,8 Millionen aufzustocken.

Gold lockt deutsche Unternehmer

Die stete Nachfrage macht die umstrittene Haldenlaugung so attraktiv und bringt auch ein deutsches Unternehmen ins Geschäft. In Kürze will der Anlagenbetreiber CJSC Korund Cyan in der Nähe von Nishnij Nowgorod den Regelbetrieb in der ersten russischen Großanlage für die Produktion von Natriumzyanid aufnehmen. Lizenzgeber für CJSC ist die Evonik-Tochter CyPlus aus Hanau. Schon bald sollen jährlich bis zu 80 000 Tonnen der gefährlichen Chemikalie in Nishnij Nowgorod produziert werden, vor allem für die noch unerschlossenen Gebiete im Osten Sibiriens.

"Es genügt doch ein Blick auf die Landkarte, um das riesige Potenzial Russlands zu erkennen", sagt Vitalij Nesis, Generaldirektor von Polymetal International, dem drittgrößten russischen Goldproduzenten mit Sitz in Sankt Petersburg. "Die wichtigste Frage, die sich uns heute stellt, lautet: Wo sollen wir anfangen zu suchen? Allein das Gebiet Magadan ist von seiner Fläche her vergleichbar mit Frankreich." Der gesunkene Goldpreis lässt Nesis nicht an seinem Geschäftsmodell zweifeln: "Es ist wichtig für uns, unter den neuen ökonomischen Bedingungen eine positive Produktionsdynamik aufrechtzuerhalten." Verluste, hofft er, lassen sich durch Ausgabenkürzungen und Produktionsoptimierung auffangen.

Zyanid kann zum Risiko werden

Die Länder mit den größten Goldreserven
Platz 10: Indien Quelle: REUTERS
Platz 9: Die Niederlande Quelle: REUTERS
Platz 8: Japan Quelle: REUTERS
Platz 6: Schweiz Quelle: AP
Platz 7: Russland Quelle: dpa-tmn
Platz 5: China Quelle: dapd
Platz 4: Frankreich Quelle: dapd

Und was ist mit dem Reizthema Zyanid? Der Konzernchef antwortet, ohne zu zögern: "Eine Goldmine ist zwar kein Atomkraftwerk – aber natürlich ist Zyanid ein gefährliches Instrument. Es sollte ausschließlich eingesetzt werden von speziell ausgebildetem Fachpersonal und von Unternehmen, die nachweisen können, dass sie mit den möglichen ökologischen Folgen eines Unfalls umgehen können." Von dem Dorf Byngi und den Sorgen seiner Bewohner, dass das Lösungsmittel in den Händen unerfahrener Minenarbeiter zum unkalkulierbaren Umweltrisiko werden könnte, hat er gehört – und gibt ihnen recht: "Dieses bürgerliche Engagement kann ich nur unterstützen. Es verhindert dumme und riskante Projekte und stimmt die großen Konzerne ein für den konstruktiven Dialog mit der Bevölkerung."

Die Anwohner der Polymetal-Goldminen haben weniger Probleme mit der Haldenlaugung als die Bürger von Byngi: Nach den gesetzlich vorgeschriebenen Anhörungen überwiegt die Freude über neue Arbeitsplätze die Angst vor dem Zyanid. So klafft inmitten der Wälder des Ural der Krater der Goldmine Voro, als wäre ein Asteroid in die grüne Landschaft eingeschlagen – Betreiber hier ist eine Polymetal-Tochter. "Wir bauen hier jedes Jahr zwei Millionen Tonnen Gestein ab", teilt der ausführende Direktor Aleksandr Novikov mit. Vom Kraterrand schaut er über die Geröllwüste. Von hier oben sehen die voll beladenen Lastwagen wie Miniaturspielzeuge aus, die sich die Kraterwand heraufschrauben. "Jede Tonne enthält fünf Gramm Gold."

Förderung unter strengen Auflagen

Auch die benachbarte Aktiengesellschaft Soloto Sewernowo Urala ("Gold des Nordural") setzt Natriumzyanid ein, um aus dem Erz die Goldpartikel herauszulösen. Das Verfahren sei gefahrlos, versichert Novikov. "Bei uns gibt es keinen Damm, der brechen könnte. Und unser Umweltmonitoring ist streng." Tatsächlich ist das betriebseigene Umweltlabor mit modernster Analysetechnik ausgestattet, Luft-, Boden- und Gewässerproben werden angeblich mit High-Tech-Verfahren ausgewertet. Erst kürzlich, berichtet Novikov, habe die Produktionsstätte erfolgreich eine Überprüfung nach dem international anerkannten Cyanid Management Codex durchlaufen. "Der Betrieb hier ist ein großes Plus für unsere Gegend wegen der Arbeitsplätze, und auf Arbeitsschutz und Ökologie wird viel Wert gelegt", beteuert auch Nikolai Kondakow, zuständig für die Registrierung der frisch geförderten Goldmengen.

Ein blickdichter Zaun, Videoüberwachung, uniformiertes Wachpersonal und ein stolzes Lachen auf dem Gesicht des Minendirektors: In einem hermetisch abgeriegelten Bereich des Betriebsgeländes stapeln sich die frisch produzierten Goldbarren – funkelnd wie zu groß geratene Schokoladentafeln und noch verführerischer. Drei Tage reine Arbeitszeit stecken in jedem dieser bislang ungenormten Exemplare. Novikov greift sich eins heraus und wuchtet es auf eine Waage: 6,582 Kilogramm zeigt die digitale Anzeige, das sind 211,616 Unzen. Bei einem Weltmarktpreis von derzeit 1314 Dollar hat dieser Barren einen Wert von mehr als 278 000 Dollar oder mehr als 209 000 Euro.

Das Freigold geht zur Neige

Doch unmittelbar am Rand des Dorfes Byngi wird das Gold auf viel traditionellere Weise gefördert, immer noch. Wie unter dem letzten Zaren, der mit seiner Familie 1918 im nahen Jekaterinburg ermordet wurde, waschen die Arbeiter hier das Gold. Ihre einzigen Hilfsmittel sind ein paar Bagger und Stufengerüste, die auf Kufen zwischen Wassergruben und Abraumhalden hindurchgezogen werden. Doch das sogenannte Freigold, das sich durch bloßes Spülen und Rütteln vom Erz trennen lässt, geht auch hier allmählich zur Neige.

Trinkwasser in Gefahr

Die Talfahrt der Goldminen-Aktien

Jetzt markiert ein Zaun das geplante neue Betriebsgelände der Minengesellschaft Artel Starateli Niewa: vorgesehen für Haldenlaugung und nur wenige Hundert Meter entfernt vom Wohngebiet an dem Flüsschen Niewa, aus dem auch heute noch Trinkwasser geschöpft wird. Aus alten Goldgräberzeiten gibt es hier unterirdische Bergwerksstollen, durch die Zyanid bei einem Unfall über Tage schnell ins Grundwasser gelangen könnte.

Deswegen hat sich vor einigen Monaten in der ganzen Gegend eine Bürgerbewegung gegen das Zyanid formiert. Dörfler schreiben Beschwerdebriefe an Präsident Putin, Rentnerinnen sammeln Unterschriften, ein Kommunalpolitiker hat Klage eingereicht, und der Dorfpfarrer schickt die Kinder nach der Sonntagsschule zum Protestplakate kleben. Anhörungen, in denen sich Minenbetreiber und Gebietsverwaltung den aufgewühlten Zuhörern zu erklären versuchen, enden nicht selten im Tumult. Dann schreien auf der einen Seite des Saales die Bergleute, die ihre Arbeitsplätze nicht verlieren wollen. Und auf der anderen Seite Dorfbewohner, die um die Kartoffeln und Möhren in ihren Gärten fürchten: "Wir sind keine Herde von Schafen", skandieren sie. "Nehmt uns ernst!"

Das scheint die Regionalregierung der Region Swerdlowsk inzwischen zu tun. Sie hat eine erweiterte Umweltverträglichkeitsprüfung angekündigt – und die kann sich über Jahre hinziehen. Ungewöhnlich für Wladimir Putins Reich: In einem Wirtschaftssektor, der für die Rohstoffgroßmacht Russland zu den Prestigeprojekten zählt, hat das Dorf Byngi am Ural ein Stück Bürgerbeteiligung erkämpft.

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