Möbelriese Ikea freut sich dieser Tage über ein ganz starkes Weihnachtsgeschäft: In russischen Filialen reihen sich Kunden in endlos lange Schlangen zum Bezahlen ein – süßer die Kassen nie klingen. Wie andere westliche Handelshäuser und Marken profitieren die Schweden in Russland von Hamsterkäufen.
Bevor der Rubel zu Euro und Dollar noch tiefer sinkt, decken sich die Russen mit West-Ware ein, die trotz der medial geschürten anti-westlichen Stimmung populärer ist als Produkte heimischer Herkunft. Patriotismus hin oder her: In Krisen folgen die Russen einer ganz eigenen Routine.
Russlands Wirtschaft steckt in der Krise – der wohl schwersten seit 1998, als das Land unter einem Schuldenberg kollabierte. Panikkäufe der Verbraucher zeigen, dass die Bevölkerung den Ernst der Lage erkannt hat. Statt Beschönigungen und Durchhalteparolen von Präsident Wladimir Putin zu glauben, traut man nurmehr den eigenen Augen.
Die sehen, dass sie den Preisen in den Geschäften beim Klettern beobachten können. Wie der Rubelkurs zum Euro so rasch steigt, dass der Platz auf den Anzeigetafeln nicht ausreicht: Ein Euro kostete am Dienstag zeitweise über 100 Rubel. Dabei gab es Phasen, in denen der Kurs weit unter 40 lag.
Das war die Zeit bis zur Wirtschaftskrise von 2008, als Russland als zuverlässiger Rohstofflieferant eine immer größere Rolle spielte und sich Putin im Inland nicht unbegründet als Garant der Stabilität verkaufen ließ.
Putins Folterwerkzeuge im Sanktionskrieg
Der Kreml droht damit, den Import westlicher Pkw nach Russland einzuschränken. Der russische Markt ist aber schon länger in der Krise. 2013 exportierten deutsche Hersteller 132 000 Fahrzeuge nach Russland - im Jahr davor waren es noch knapp 157 000. Bei Volkswagen liegt der Konzernabsatz in Russland nach zwei Dritteln des Jahres 12 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Unabhängig von den Sanktionen sagt ein VW-Insider: „Der Markt fliegt uns ganz schön um die Ohren.“ Die Sanktionen könnten jene Hersteller teils schonen, die in Russland in eigenen Fabriken produzieren. Der Duisburger Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer hält Importverbote deshalb für verkraftbar: „Nahezu alle wichtigen deutschen Autobauer wie VW, Opel-Chevrolet, Ford, BMW, Daimler Nutzfahrzeuge sind mit Werken in Russland vertreten.“ Der Präsident des Branchenverbands VDA, Matthias Wissmann, aber rät zum Blick über den Tellerrand: Das Thema drücke auf die Psychologie der internationalen Märkte.
Macht Moskau ernst und den Luftraum für westliche Airlines über Sibirien dicht, wäre das ein harter Schlag. Genau das hat Russlands Regierungschef Dmitri Medwedew im Sinn: „Wenn westliche Gesellschaften unseren Luftraum meiden müssen, kann das zum Bankrott vieler Fluggesellschaften führen, die schon jetzt ums Überleben kämpfen.“ Beispielsweise müssten die großen europäischen Airlines Air France-KLM, British Airways oder Lufthansa, die über Sibirien nach Asien fliegen, auf längere Routen ausweichen. Das kostet Treibstoff, Besatzungen müssen länger arbeiten. Experten gehen von etwa 10 000 Euro Mehrkosten pro Flug aus. Dies dürfte nicht ohne Folgen auf die Ticketpreise bleiben, von längeren Flugzeiten für die Kunden ganz zu schweigen. Aber: Bisher päppelte Moskau mit den Einnahmen von über 200 Millionen Euro pro Jahr aus den Überflugrechten die Staatsairline Aeroflot auf. Lachender Dritter wären wohl die Chinesen. Sie könnten dank des Sibirien-Kostenvorteils die Europäer im lukrativen Asiengeschäft noch mehr ärgern.
Bei Lebensmitteln machte Putin bereits ernst und verhängte Anfang August einen Importstopp, weil ihm erste EU-Sanktionen nicht schmeckten. Die 28 EU-Staaten, die USA, Australien, Kanada und Norwegen dürfen für ein Jahr Fleisch, Fisch, Milch, Obst und Gemüse nicht mehr einführen. Einzelne Agrarländer wie Griechenland trifft das hart. Für die deutsche Agrarbranche sind die Folgen überschaubar, sagt Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU). Um Verwerfungen im EU-Markt wegen des Überangebots zu verhindern, rief Schmidt die Verbraucher auf, mehr heimisches Obst und Gemüse zu essen: „One apple a day keeps Putin away“ (Ein Apfel am Tag hält Putin fern). Nun kündigt Moskau an, auch Produkte der Textilindustrie auf den Index zu setzen. Details sind aber unklar.
Hier hält Putin die ultimative „Waffe“ in der Hand. Dreht er den Gashahn zu, hätte Europa ein Problem. Grund zur Panik besteht aber nicht. Die Gasspeicher sind randvoll (Deutschland: 91,5 Prozent, EU-weit: 90), die Vorräte dürften zumindest in Deutschland, das seinen Gasbedarf zu mehr als ein Drittel aus Russland deckt, bis zum Frühjahr reichen. Das Baltikum und Finnland sind aber zu 100 Prozent von russischen Gasimporten abhängig, viele südosteuropäische Länder hängen auch am Gazprom-Tropf. Die Bundesregierung geht davon aus, dass Putin liefertreu bleibt, nicht auf die Export-Milliarden verzichten kann. Die knallharte Entscheidung der EU, die russischen Energieriesen Gazprom Neft, Rosneft, Transneft sowie Rüstungsfirmen jetzt vom europäischen Kapitalmarkt abzuschneiden, dürfte Putin aber mächtig reizen. Polen meldet, Gazprom liefere weniger Gas als vereinbart - was der Monopolist von Putins Gnaden bestreitet.
Im Moment ist Putin ein Garant der Instabilität, ein Risikofaktor für die russische Wirtschaft. Der Rubelcrash am Wochenbeginn lässt sich nicht (nur) auf den niedrigen Ölpreis zurückführen, denn der blieb derweil stabil knapp unter 60 Dollar. Die Abwertung um knapp ein Drittel in der Spitze ist keine Folge der Sanktionen, die die russische Wirtschaft kurzfristig gut wegstecken kann.
Vielmehr dokumentiert die Flucht aus der Währung, dass das Vertrauen in Russland unter Investoren zerstört ist. Nachdem die Notenbank den Leitzins um sagenhafte 7,5 Prozentpunkte auf 17 Prozent erhöht hatte, rollte der Rubel bergab – nicht einmal der Holzhammer hilft, den Exodus aus Russland zu stoppen. Das spüren Investoren, so kommt eben Panik auf. Erst am Mittwoch konnte die Notenbank den Kursverfall mit teuren Stützungskäufen stoppen.
Putin ruiniert sein Land selbst
In erster Linie ist Putins Politik die Ursache für den Vertrauensverlust. Mit der Krim-Annexion im März und der fortwährenden Unterstützung der Separatisten in der Ukraine beweist der 63-Jährige, wie egal ihm internationale Regeln sind. Mit diesem Rechtsverständnis leistet er seinem Land einen Bärendienst, denn Investoren machen längst einen Bogen um den Risikomarkt Russland.
Selbst die russischen Investoren meiden die Heimat, was sich am Kapitalabfluss von dieses Jahr mindestens 130 Milliarden Dollar ablesen lässt. Russland wird so zum Spielball für Spekulanten – und die Realwirtschaft blutet isoliert vom globalen Finanzmarkt immer mehr aus.
Was ist „Neurussland“?
In der Ostukraine haben prorussische Separatisten im Mai ihre „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk zu „Neurussland“ vereinigt. Auch Russlands Präsident Putin verwendete mehrfach diese Bezeichnung. Sie hat einen historischen Ursprung.
Mitte des 18. Jahrhunderts wurde ein Militärbezirk nördlich des Schwarzen Meeres so genannt. Neurussland reichte damals von Bessarabien (heute die Republik Moldau) bis zum Asowschen Meer. Zentrum war Krementschuk, etwa 300 Kilometer südöstlich von Kiew. Zur Zeit der Feldzüge gegen die Türken und das Krim-Khanat sollte die Ansiedlung russischer und ukrainischer Bauern sowie ausländischer Siedler das Grenzgebiet stabilisieren.
1764 bildete Zarin Katharina die Große das „Neurussische Gouvernement“. Nach der Eroberung der Krim verlor Neurussland seine strategische Bedeutung und wurde rund 20 Jahre nach der Gründung wieder aufgelöst. Zar Paul I. bildete 1796 erneut ein kurzlebiges Verwaltungsgebiet Neurussland um den Hauptort Noworossisk, dem heutigen Dnjepropetrowsk.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde ein russisches „Generalgouvernement Neurussland-Bessarabien“ geschaffen. Von 1818 bis etwa 1880 wurden wieder ausländische Siedler angeworben. Auch aus deutschsprachigen Gebieten kamen viele Menschen in die Steppen Neurusslands. Die Dörfer dieser „Schwarzmeerdeutschen“ existierten bis zu den Deportationen in der Stalin-Zeit.
Die Rechnung zahlen die normalen Russen über die Inflation, die real längst im hohen zweistelligen Bereich liegt. Politisch wird das früher oder später zum Problem für Wladimir Putin. Eigentlich. Denn just in der Phase, da Russland wirtschaftlich am Boden liegt, treten die Amerikaner noch einmal nach.
Heute wird US-Präsident Barack Obama wohl neue Sanktionen gegen Russland in Kraft setzen. Die sollen vor allem der Ölindustrie schaden und der Tatsache Rechnung tragen, dass die Krim immer noch in russischer Hand ist und die Separatisten rund um Donezk und Lugansk immer noch Unterstützung aus Russland für ihren Kampf gegen die Ukraine bekommen.
Stimmt. Andererseits gab es zuletzt keine neue Eskalation des Kriegs, im Gegenteil scheint Moskau am Verbleib der Ost-Ukraine unter Kiewer Führung schon aus Kostengründen ernsthaft interessiert zu sein. Gerade jetzt wäre es Zeit, einen neuen Schlichtungsversuch zu starten! Brüssel sollte sich vorsehen, den Amerikanern diese Woche mit einer Verschärfung der Sanktionen blind zu folgen.
Putin ruiniert sein Land selbst – ob mit oder ohne schärfere Sanktionen. Die Verschärfung ist eine Torheit zu Lasten der russischen Bevölkerung, das Kräftemessen zwischen Ost und West zeugt von völliger Unkenntnis der innenpolitischen Befindlichkeit in Russland: Mit neuen Strafmaßnahmen böte sich der Westen freiwillig als Sündenbock für das ökonomische Übel an, das Putin im Kern selbst zu verschulden hat. So stabilisiert Obama jenen Putin, den er insgeheim loswerden will.
Die gefährliche Folge für Europa könnte eine weitere Radikalisierung der Russen sein, die sich dank eines gut geölten Propagandaapparats ohnehin in einem Krieg mit dem Westen wähnen. Vermutlich wird das autoritäre Regime in Russland eines Tages krachend zusammenbrechen. Vorher ist aber nicht ausgeschlossen, dass Putin Politik noch aggressiver wird. Weil er es kann. Und weil er nichts mehr zu verlieren hat.