Russlanddeutsche Propaganda auf Russisch

„Russen“? „Putins Agenten“? Russlanddeutsche sind durch Anti-Flüchtlings-Demos in die Schlagzeilen geraten, auch Bewohner aus Pforzheims Stadteil Haidach. Viele favorisieren hier die AfD – aber längst nicht alle.

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Die Russlanddeutschen Johannes Braun (v.l.), Nicole Herber, Andreas Fabrizius und Waldemar Meser stehen vor einem Wohnhaus im Pforzheimer Stadtteil Buckenberg-Haidach (Baden-Württemberg). Quelle: dpa

Pforzheim/Berlin In die Jahre gekommene Hochhäuser, vierstöckige Bauten zwischen großen Rasenflächen und Reihenhäuschen mit gepflegten Vorgärten. Mütter schieben Kinderwagen, Rentner sind auf dem Weg zum Einkauf. Ein ganz normaler Morgen in einer deutschen Vorstadt. Rund 8500 Menschen leben in dem Pforzheimer Höhen-Stadtteil Haidach, darunter etwa 5500 Deutsche aus Russland. Seit Jahrzehnten größtenteils unauffällig. Nun sorgt die Flüchtlingskrise für Unruhe innerhalb der Community.

Bundesweit ist die Bevölkerungsgruppe wegen Anti-Flüchtlings-Demos in Verruf geraten. Nach dem „Fall Lisa“ in Berlin, der angeblichen Vergewaltigung eines russisch-deutschen Mädchens, waren in vielen Städten – auch in Pforzheim – wütende Menschen auf die Straße gegangen. Aufgrund einer Falschmeldung.

Es seien nicht alles Russlanddeutsche gewesen bei den Demonstrationen, betont Waldemar Meser (65) von der Elterninitiative Haidach. „Das lässt ein verzerrtes Bild meiner Landsleute entstehen.“ Beim Gespräch im Bürgerhaus Buckenberg-Haidach mit seinem Mitstreiter Johannes Braun (62), Studentin Nicole Herber (24) und Andreas Fabrizius (29), dem Organisator der Pforzheimer Demo, wird vor allem eines deutlich: Es gibt sehr unterschiedliche Positionen unter den Deutschen aus Russland.

Bundesweit kamen seit dem Zweiten Weltkrieg fast 2,4 Millionen Aussiedler und Spätaussiedler aus Russland sowie den alten Sowjetrepubliken nach Deutschland. Sie gelten als fleißig, ordnungsliebend und unpolitisch. Wenn sie wählen, eher konservativ. „Es ist eine Gruppe, die sich gut integriert hat“, sagt der Berliner Publizist Sergey Lagodinsky. Das bescheinigt ihnen auch Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall (SPD).

Die meisten wollen nur als ganz normale Mitbürger wahrgenommen werden. „Wenn man sagt, man kommt vom Haidach, heißt es gleich: Du bist Russin“, weiß Studentin Nicole Herber. Ihre Eltern sind Russlanddeutsche. Sie ist hier aufgewachsen. Über das Etikett „Russe“ ärgert sich seit fast 40 Jahren auch der ehemalige Daimler-Mitarbeiter und Sohn von Wolga-Deutschen, Johannes Braun: „Ich war drüben kein Russe, warum soll ich jetzt einer sein?“ Andreas Fabrizius wiederum, der 2002 von Kasachstan nach Deutschland kam, ist als „Agent Putins“ bezeichnet worden, „aber niemals als deutscher Bürger“.


Flüchtlingsthema wird emotionalisiert und zugespitzt

Es sind solche Dinge, die in den Köpfen blieben, und die Tatsache, dass „die Russen“ nicht immer freundlich aufgenommen wurden, sagt Jürgen Arnhold, Bundesgeschäftsführer der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Und das sind auch Gründe, warum vor allem Spätzuzügler mit geringen Deutschkenntnissen vorzugsweise russisches Fernsehen schauen. Dass russische Shows nebenbei Propaganda einstreuen, hat Publizist Lagodinsky seit der Ukraine-Krise beobachtet.

Mit dem „Fall Lisa“ sei das Flüchtlingsthema in russischen Medien emotionalisiert und zugespitzt worden. Dass es Ende Januar zeitgleich im Südwesten 20 Anti-Flüchtlings-Demos mit Russlanddeutschen gab, war aus Sicht Mesers kein Zufall. „Es gab auf Russisch im Internet einen Aufruf.“

Alle Aussiedler sollten demnach Flagge zeigen gegen eine verfehlte Flüchtlingspolitik. Wer den Aufruf startete, ist unklar. Johannes Braun erinnert sich an das Kürzel „ru“ für Russland. Die beiden Rentner und die Studentin Herber gingen nicht zur Demo. Andreas Fabrizius brachte dagegen via Facebook in Kürze mehr als 800 Menschen auf die Straße.

An die 50 Flüchtlinge leben im Stadtteil. „Es gibt schon Ängste“, sagt Meser. Wie groß, aber auch wie diffus diese in der AfD-Hochburg Pforzheim sind, zeigte neulich eine Info-Veranstaltung der Stadt. Neben Russlanddeutschen fielen dort Rechtsextreme und die Hooligans „Berserker“ auf. Durch Flüchtlinge sahen Redner Frauen und Kinder gefährdet. Konkrete Vorfälle wurden nicht genannt, nur „Belästigungen überall“. Einige plädierten für eine Bürgerwehr, wie sie Fabrizius aufziehen will.

Eine Bürgerwehr auf dem Haidach? Polizei und Stadt winken ab. Der Staat könne selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen, heißt es. Auch hat sich das in den 1990er Jahren wegen Jugendkriminalität berüchtigte Quartier längst gewandelt: „Der Haidach ist inzwischen einer der sichersten und unauffälligsten Stadtteile“, so die Stadt.

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