Russlandexperte Fjodor Lukjanow "Der Kreml kann nicht gewinnen"

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Eine dauerhafte Distanz zum Westen ist ausgeschlossen.

Stört es die Russen überhaupt nicht, dass sich ihr Land immer weiter vom Westen entfernt – und Asien zuwendet, einem völlig fremden Kulturraum?

Ein großer Teil der russischen Gesellschaft verfolgt die Außenpolitik von Putin mit Enthusiasmus. Heute steht auch ein großer Teil jener urbanen Mittelschicht hinter Putin, die vor drei Jahren noch gegen ihn auf die Straße gegangen ist – darunter das gesamte linke und rechte Lager. Nur die Liberalen kritisieren die Politik, aber die spielen in Russland nur eine marginale Rolle.

Ist Russland noch ein Teil Europas?

Ich glaube nicht daran, dass Russland ernsthaft und auf Dauer in der Lage ist, sich vom Westen zu distanzieren. Schon wegen der intensiven ökonomischen Beziehungen. Optimal wäre es, wenn Russland diesen Unsinn zwar beendet – sich dabei aber innerhalb der westlichen Zivilisation die Eigenständigkeit bewahrt. So wie Brasilien: Die leugnen auch nicht ihre europäischen Wurzeln, leben aber in ihrer eigenen Welt.

Was kann Europa tun, damit sich Russland uns wieder stärker annähert?

Nichts. Denn genau das ist der Fehler. Der Westen sollte aufhören, Russland sein Wertemodell aufzuoktroyieren. Das westliche Demokratiemodell ist in Russland im Chaos der Neunzigerjahre gescheitert. Und zwar auch deshalb, weil viele hier geglaubt haben, dass Russland genauso werden muss wie Europa. Das wurde nichts, daran sind wir ebenso schuld wie der Westen. Wir sollten aufhören, uns Russland als ein riesiges Polen vorzustellen, das einfach nur viel länger braucht, bis es so demokratisch wird wie der Rest Europas. Europäische Werte sind doch auch kein Gesetzeswerk, einmal beschlossen und für immer gültig. Als Russland vor fast 20 Jahren dem Europarat beitrat, waren Rechte sexueller Minderheiten nicht so entscheidend wie heute. Die Europäer sollten nüchtern auf Russland blicken als ein Land, das der europäischen Kultur zwar nahesteht, aber es ist nicht Teil eines Werteraums, wie ihn die EU anstrebt.

Und Putin ist ein lupenreiner Europäer?

Auf jeden Fall ist Putin ein Europäer. Wie lupenrein er ist, das hängt wieder von der Sichtweise ab. Er steht dem europäischen Westen näher als Asien – allerdings einem Europa, so wie es vor einigen Jahrzehnten aussah. Ich glaube, er hätte sich großartig mit Bismarck, Churchill oder de Gaulle verstanden. Das waren Interessenpolitiker, keine Werte-Missionare wie die heutigen europäischen Politiker.

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