Sabotage und Verhaftungen Opposition in der Türkei beklagt Schikanen

Präsident Erdogan greift europäische Länder wegen der Auftrittsverbote für türkische Politiker scharf an. Doch in der Türkei werden die Auftritte seine Gegner auch oft unterbunden oder zumindest massiv behindert.

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Erdogan verhaftete bereits rund 150 Journalisten. Quelle: dpa

Ankara Drohungen, Gewalt, willkürliche Verhaftungen, dazu Sabotage und kaum Sendezeit im Fernsehen - vor dem Referendum in der Türkei sieht sich die Opposition dort immer wieder benachteiligt und drangsaliert. Und zugleich kritisiert Präsident Recep Tayyip Erdogan europäische Länder wie Deutschland oder die Niederlande in aller Schärfe, weil seine Minister dort keinen Wahlkampf für die Volksabstimmung am 16. April machen dürfen, bei der die Machtbefugnisse des Präsidenten massiv ausgeweitet werden sollen.

„Wer für ein „Nein“ wirbt, sieht sich mit einer Reihe von Hindernissen konfrontiert“, sagt Utku Cakirozer, ein ehemaliger Journalist, der nun Abgeordneter der Oppositionspartei CHP ist. Zwar kritisiert auch er die Entscheidungen in Deutschland und den Niederlanden, keine Minister einreisen zu lassen. Aber er mahnt auch, dass die Demokratie in seiner Heimat schnell wieder auf ein höheres Niveau gehoben werden müsse.

Bei dem Referendum geht es darum, ob die Macht des Präsidenten und des Ministerpräsidenten in einer Präsidialdemokratie verschmolzen werden. Erdogan argumentiert, dass die Türkei mit einem starken Präsidentenamt besser für die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Herausforderungen gerüstet sei. Kritiker sagen dagegen, Erdogan erhalte damit zu viel Kontrolle und die demokratische Gewaltenteilung in dem Land werde weiter geschwächt.

Die Meinungsumfragen deuten derzeit auf ein enges Rennen zwischen Befürwortern und Gegnern hin. Möglicherweise geben die Bürger den Ausschlag, die sich bislang noch nicht entschieden haben.

Die Gegner der Verfassungsänderung monieren, dass sie kaum Öffentlichkeit im Fernsehen erhalten: Entweder befinden sich die Sender auf Regierungskurs oder sie sehen aus Angst vor Repressionen von einer regierungskritischen Berichterstattung ab.

Erdogan und die Mitglieder seiner Regierung dominieren die Sender. Zweimal täglich werden Wahlkampfreden live übertragen, in voller Länge und auf allen Kanälen. Einweihungen oder andere staatliche Veranstaltungen werden häufig zu Events der Befürworter. Selbst in den staatlichen Medien, die eigentlich zur Neutralität verpflichtet sind, finden die Gegner der Verfassungsänderung kaum Platz. Bei Übertragungen von Reden des CHP-Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu schalten sie immer wieder schnell zurück ins Studio.

Erdogan-Sprecher Ibrahim Kalin weist solche Vorwürfe zurück. Die Opposition könne frei agieren. „Nur weil die Veranstaltungen des Präsidenten und des Ministerpräsidenten mehr Menschen anziehen und es nur nach einer „Ja“-Kampagne aussieht, stimmt das nicht. Das ist eine Fehlinterpretation“, sagte er kürzlich.


Todesdrohungen und wenig Sendzeit

Die CHP hat nach eigenen Angaben rund 100 Vorfälle erfasst, bei denen das „Nein“-Lager gestört und behindert wurde, von körperlicher Gewalt über Todesdrohungen bis hin zu willkürlichen Verhaftungen. „Mal wird der Strom abgeschaltet oder die Flugblätter werden weggerissen, mal wird der Veranstaltungssaal im letzten Moment renoviert, oder das Podium wird angegriffen, oder es gibt eine Störung, dass wir nicht sprechen können“, sagt Sinan Ogan, einer der Gegner der Verfassungsänderung. „Und selbst wenn du sprechen kannst, sendet das kein Fernsehsender.“

Erdogan, der die deutsche und die niederländische Regierung als Nazis und Faschisten bezeichnet hat, weil sie türkische Minister nicht auftreten ließen, sagt, zu den Gegnern einer Verfassungsänderung gehörten auch Terroristen und Putschisten. „Deswegen glaube ich, dass meine Bürger, meine Brüder mit „Ja“ stimmen werden“, sagte er.

Der Ausnahmezustand, der nach dem missglückten Putsch im vergangenen Sommer ausgerufen wurde, erlaubt es der Regierung, per Dekret zu regieren sowie Demonstrationen und Versammlungen zu unterbinden. Etwa 41 000 Menschen wurden seitdem verhaftet. Zu den Inhaftierten zählen etwa 150 Journalisten sowie ein Dutzend Abgeordnete der prokurdischen Partei, die ebenfalls gegen die Verfassungsänderung ist.

Zehntausende wurden wegen angeblicher Verbindungen zu den Putschisten oder zu Terroristen aus öffentlichen Ämtern entfernt. Ein Dekret hat zudem dem Obersten Wahlausschuss die Möglichkeit entzogen, Geldstrafen gegen Fernsehsender zu verhängen, wenn sie den Gegnern nicht genauso viel Sendezeit einräumen wie den Befürwortern.

Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte bei einem Besuch in Ankara im vergangenen Monat die Einsetzung von Wahlbeobachtern, um den ordnungsgemäßen Ablauf des Referendums zu kontrollieren. Europäische Institutionen haben ihre Sorge über den Wahlkampf ausgedrückt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass freie Meinungsäußerung und Versammlungsrechte eingeschränkt sind.

„Wenn ein Referendum zu einer Verfassungsänderung unbedingt während eines Ausnahmezustandes abgehalten werden muss, dann müssen die Einschränkungen der politischen Freiheit aufgehoben werden“, erklärt etwa die Venedig-Kommission, eine Einrichtung des Europarates, die Staaten verfassungsrechtlich berät. „Wenn die Einschränkungen nicht zurückgenommen werden können, sollte das Verfassungsreferendum bis zum Ende des Ausnahmezustands verlegt werden.“

Die Zeitung „Sözcü“, eine der letzten verbliebenen regierungskritischen Zeitungen, schrieb in ihrem Aufmacher am Mittwoch, dass das Vorgehen der Niederlande falsch gewesen sei, stellte jedoch auch die Vorgänge in der Türkei in Frage. „Das Regierungssystem verändert sich, aber diejenigen, die „Nein“ sagten, erhalten keinen Raum zum Atmen“, schrieb sie.

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